Notiert inSchanghai

Ein Land haut auf die Gurke

Gurkensalat ist der Dauerschlager in Chinas Billig-Gastronomie. Fast wäre er einem heimtückischen bürokratischen Anschlag zum Opfer gefallen. Gott sei dank wurde mit Fingerspitzengefühl interveniert.

Ein Land haut auf die Gurke

Ein Land haut auf die Gurke

Notiert in Schanghai

Von Norbert Hellmann

Wollen Deutsche die Zubereitung eines Gurkensalats lautmalerisch charakterisieren, landen sie wahrscheinlich bei schnippel-schnippel-schnippel oder hobel-hobel-hobel. In China passt nur ein Geräusch zum Gurkensalat, und zwar Paf! Paf! Paf! Gurkensalat nennt sich pai huang gua – geschlagene Gurke. Man isst sie grundsätzlich nicht fein tranchiert, sondern grob geprügelt, und das in unvorstellbaren Mengen. Gurkensalat ist das mit Abstand meistverspeiste kalte Gericht im Reich der Mitte.

Strukturen lustvoll aufbrechen

Küchentechnik bestimmt den Klangunterschied: Man schneidet die Gurke in grobe Stücke. Dann teilt man mit der flachen Seite des Küchenbeils, der Allzweckwaffe im chinesischen Haushalt, hemmungslos und lustvoll Schläge aus. Zurückhaltung bringt aus kulinarischer Sicht nicht die gewünschten Resultate. Es geht um Dekonstruktivismus. Man muss Strukturen aufbrechen, um aus der an sich faden Gurke mehr herauszuholen. Erst durch Gewalteinwirkung können die frischen, aber geschmacksarmen Seiten des Gesundgemüses in symbiotische Verbindung mit dem würzigem Dressing treten.

Apropos, die Vorstellung, dünn gehobelte Gurkenscheiben mit einer Joghurt-Dill-Sauce zu übergießen und daraus Befriedigung zu erzielen, löst bei Chinesen Lachkrämpfe oder Mitleidsbekundungen aus. Nein, so geht es nicht. Was die Gurke braucht, ist ein wenig Schmierstoff, am besten mit Sichuan-Pfeffer versetztes Öl, einen Schluck Reisessig, einen Schwapp Sojasauce und eine sehr großzügige Portion Knoblauch. Der wird nicht durch eine schicke Presse gejagt, sondern ebenfalls mit dem Küchenbeil übel zugerichtet.

Zeitgewinn ohne Fingerkuppenverlust

So weit die Basics. Danach kann man der Sache mit Koriandergrün, geröstetem Sesam und roten Chilischoten mehr Schliff und Farbkontrast verleihen. Das Ganze dauert höchstens fünf Minuten. In westlichen Gefilden braucht man die schon, um in hinteren Ecken von Küchenschränken den verflixten Gurkenhobel zu lokalisieren und ohne Verletzungsgefahr herauszuwühlen. Vom Zeitaufwand zur Erstversorgung lädierter Fingerkuppen ganz zu schweigen.

Die Schlichtheit und hohe Zufriedenstellungsquote des chinesischen Gurkensalats macht ihn zum Billigschlager im Restaurantgewerbe. Er ist praktisch überall als Beilage für umgerechnet etwa einen Euro zu haben und entsprechend populär. Nun ist daraus ein Politikum erwachsen. Eine neue Verordnung bedingt Sanitärauflagen bei der Zubereitung von kalten Gerichten, die die oft winzigen Etablissements kaum erfüllen können. Dazu gehört ein extra ausgewiesener Arbeitsbereich für bakterienanfällige, weil ungekochte Speisen von mindestens 5 Quadratmetern und einiges mehr. Ein bürokratischer Rundumschlag, der für die geschlagene Gurke das Aus bedeuten könnte.

Strafe muss nicht mehr sein

Tausende von Gaststätten kassierten empfindliche Strafen, weil sie die Auflagen nicht erfüllt und dennoch Gurkensalat serviert hatten. Oft wurden sie von Konkurrenten angezeigt oder von umtriebigen Kunden mit Bildbeweisen erpresst. Daraus ist ein öffentlicher Empörungssturm zum Schutz der Kleingastronomie erwachsen, mit dem man sich selbst in höheren Parteietagen befassen musste. Ab 1. Dezember wird die Nichterfüllung der Kaltspeisenverordnung bei fisch- oder fleischlosen Gerichten als lässliche Sünde toleriert und führt lediglich zu Verwarnungen. Nur im Falle nachgewiesener Kontaminierung greift das Strafenregister mit voller Wucht.

Man hat also eine salomonische Lösung gefunden, über deren Geschmeidigkeit Parteimedien frohlocken: „Die neu gefasste Regelung zeugt von Weisheit, Flexibilität und Praxisnähe. Sie unterstreicht das Engagement der Regierung für das private Kleinunternehmertum. In breiterer Perspektive demonstriert dies Chinas rastlose Anstrengung, sich den Bedürfnissen einer sich dynamisch wandelnden, diversen Gesellschaft anzupassen.“ Alles wird gut. Auf die Alltagsperspektive heruntergebrochen bedeutet es, dass Abermillionen Gastwirte wieder mit reinem Gewissen und voller Wucht auf die Gurke hauen dürfen.

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