Ein Regierungschef geht auf Geisterjagd
Vor wenigen Tagen ist Japans Premierminister Fumio Kishida in seine offizielle Residenz eingezogen. Damit ist das zweistöckige Gebäude erstmals seit knapp einem Jahrzehnt wieder bewohnt. Seine beiden Vorgänger – Shinzo Abe und Yoshihide Suga – mieden die Villa, zuletzt wohnte dort Yoshihiko Noda bis 2012. Die Presse berichtete ausführlich über den Umzug von Kishida, denn in dem weitläufigen Komplex mit über 5100 Quadratmetern Fläche sollen seit fast einem Jahrhundert mehrere Gespenster ihr Unwesen treiben.
1932, drei Jahre nach der Eröffnung, drangen nämlich elf junge Marineoffiziere in den neuen Amtssitz ein und töteten Premierminister Tsuyoshi Inukai mit zwei Schüssen in den Kopf. Vier Jahre später war die Residenz der Schauplatz eines weiteren Putsches. 280 Soldaten umstellten das Gebäude am 26. Februar 1936, um den Premierminister zu liquidieren. Doch der damalige Amtsinhaber Keisuke Okada versteckte sich in einem Schrank und überlebte. An seiner Stelle erschossen die Putschisten seinen Schwager Denzo Matsuo. Wegen dessen starker Ähnlichkeit mit Okada glaubten die Angreifer, ihren Auftrag erfüllt zu haben. Ein angebliches Einschussloch über der Haupteingangstür mit den steinernen Eulen erinnert bis heute an den Aufstand, nach dem Japans Parteien ihre Macht endgültig an das Militär verloren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das im Art-déco-Stil gestaltete Gebäude unter Politikern als veraltet und düster. Premierminister Yoshiro Mori, der von 2000 bis 2001 regierte, erzählte seinem späteren Nachfolger Abe, dass er dort Geister gesehen habe. Bei der Renovierung vor 16 Jahren vollzog ein Shinto-Priester ein exorzistisches Ritual, um die bösen Geister aus den Räumen zu vertreiben. Abe wohnte dort während seiner ersten, einjährigen Amtszeit (2006 bis 2007). Danach wechselte der Premierminister jedoch fast jährlich, was den Ruf des Gebäudes als vermeintlichem Unheilbringer wieder verstärkte. Während seiner zweiten Regierungsperiode (2012 bis 2020) wohnte Abe lieber privat und ließsich täglich zu seiner Arbeit chauffieren.
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Geister, Kobolde, Monster, Zwerge, Zombies und Gespenster existieren im Okzident wie im Orient. Aber Japans „andere Welt“ weist einige Besonderheiten auf: Im Shinto-Glauben verläuft die Grenze zum Jenseits fließend; Ahnen, Geister und Götter bevölkern diesen Kosmos zu Abermillionen. Auch beim Kabuki- und No-Theater gehören Geister fast immer dazu. Und gemäß der buddhistischen Lehre müssen sich die Lebenden um die Seelen der Toten kümmern. Das schafft ein anderes Umfeld für Geister als im christlich geprägten Westen. Japanische Kinder benutzen das Wort Obake für traditionelle Gespenster, aber es deckt alle Wesen des Volksglaubens ab. Das O von Obake drückt die Ehrfurcht vor ihnen aus, Bake kommt vom Verb „sich wandeln“. Obake sind also „Verwandelte“, sie teilen sich grob in Yokai und Yurei auf. Erstere gleichen unseren Fabelwesen und nehmen häufig Tiergestalt an. Letztere sind Geister von Verstorbenen. Als klassische Gespenster schweben sie ab Mitternacht umher und jagen anderen einen Schrecken ein. Meist handelt es sich um Frauen im weißen Totengewand. Eine Variante sind rachsüchtige Geister, die ihre Verwandten bestrafen.
Doch Regierungschef Kishida, der Anfang Oktober ins Amt kam, hat sich von diesem Volksglauben nicht abschrecken lassen. Er zog von seiner Abgeordnetenwohnung im Regierungsviertel in das Spukhaus um, um einen möglichst kurzen Weg zur Arbeit zu haben, – das Premierministeramt, das Kantei, ein 20 Jahre alter Bungalow aus Stahlbeton und Glas, befindet sich direkt nebenan. Nach seiner ersten Nacht im neuen Domizil betonte Kishida, er habe sehr gut geschlafen. „Ich habe keine Geister gesehen, noch nicht“, antwortete der 64-Jährige auf die Frage eines Journalisten. Mal sehen, welchen ausländischen Gast er dort als Erstes empfangen wird. Die Geister könnten auch sie verhexen: Bei einem Staatsbankett 1992 in einem der prächtigen Säle kippte der damalige US-Präsident George H.W. Bush ohnmächtig um und erbrach seinen Mageninhalt auf den Schoß von Premierminister Kiichi Miyazawa.
(Börsen-Zeitung,