Notiert inBrüssel

Europas schizophrene Klimapolitik

Greta Thunberg streikt in Brüssel. Greenpeace verklagt die EU-Kommission. Und Wasserstoff mithilfe von Atomkraft soll die Zukunft sein.

Europas schizophrene Klimapolitik

Notiert in Brüssel

Schizophrene Klimapolitik

Von Stefan Reccius

Greta war vor wenigen Tagen in der Stadt. Sie saß im Halbschatten vor der EU-Botschaft ihres Heimatlandes Schweden und hatte ein braunes Pappschild dabei. (Nein, festgeklebt hatte sie sich nicht.) Auf ihrem Schild war in blauen Versalien auf Englisch zu lesen: „Wälder sind nicht erneuerbar“.

Was hat es mit dieser kryptischen Protestbotschaft nun wieder auf sich? In Schweden muss per Gesetz für jeden gerodeten Baum ein neuer gepflanzt werden. Was zum Schutz der riesigen Wälder gedacht ist, sorgt ausgerechnet Naturschützer: Immer mehr natürlicher Wald verschwinde zugunsten von Monokulturen.

Was für Schwedens Forstpolitik gilt, lässt sich auf die Klima- und Energiepolitik der EU als Ganzes übertragen: Nichts ist so, wie es scheint. Am Dienstagmorgen haben große Naturschutzverbände die EU-Beamten auf deren morgendlichem Weg zur Arbeit mit einem riesigen Plakat begrüßt. „Wir sehen uns vor Gericht“, lautete die nicht zu übersehende Botschaft, die auf einem Auto-Anhänger zwischen dem Berlaymont-Gebäude der Kommission und dem Ratsgebäude der Mitgliedstaaten aufgebaut war. „Gas ist nicht grün.“

Plakat von Umweltverbänden vor dem Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission

Was dahintersteckt, verrieten die Verbände um Greenpeace in einer Pressemitteilung: Sie verklagen die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof. Grund ist die Taxonomie. Das Klassifikationssystem für nachhaltige Finanzprodukte schließt Gas und Atomkraft ein. Für viele Kritiker versündigt sich die EU-Kommission damit an ihrer eigenen Klimaschutzoffensive. „Die EU-Kommission darf nicht das Problem als Lösung verkleiden“, sagt Nina Treu, Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland. „Atom und Gas können nicht nachhaltig sein. Deshalb zieht Greenpeace vor Gericht.“

Am selben Tag besiegelte das EU-Parlament ein Gesetzespaket, das nach den Vorstellungen der Abgeordneten als „das größte Klimaschutzgesetz aller Zeiten“ in die Geschichte eingeht. Es verpflichtet die EU-Staaten sicherzustellen, dass die CO2-Emissionen schnell drastisch sinken. Sie ziehen daraus freilich völlig unterschiedliche Schlüsse, was das für ihre Energiepolitik bedeutet. Dass Deutschland der Ausbau der Erneuerbaren gar nicht schnell genug gehen kann, lässt Frankreich kalt: Dort setzt man weiter voll auf Atomkraft.

Grüner vs. blauer Wasserstoff

Abgesandte aus Paris nerven die Verhandler des Klimagesetzes seit Wochen mit dem penetranten Beharren, blauen Wasserstoff als klimafreundlich anzuerkennen. Im Unterschied zu grünem Wasserstoff wird blauer Wasserstoff mithilfe von Atomenergie erzeugt. Damit treffen die Franzosen in Brüssel einen Nerv. Denn die EU-Kommission hat Wasserstoff als Technologie der Zukunft auserkoren. Noch in diesem Jahr soll eine europäische Wasserstoffbank an den Start gehen.

Belgien hat sich zum Ziel gesetzt, Europas Drehscheibe für Wasserstoff zu werden. Es winken Förderungen über die selbsternannte Klimaförderbank EIB. „Mit erneuerbarem Wasserstoff stärken wir unsere Energieunabhängigkeit und die Umweltfreundlichkeit unserer Industrie“, sagt Energieministerin Tinne Van der Straeten. Geplant ist eine Kooperation mit Frankreich – dem Land des blauen Wasserstoffs.

Was erneuerbar ist, liegt eben im Auge des Betrachters. Die angeblich klimafreundliche Atomkraft erlebt mit dem Segen aus Brüssel quer durch Europa eine Renaissance, obwohl sich die EU-Kommission doch eigentlich dem Kampf gegen Greenwashing verschrieben hat, während der vermeintliche Klimavorreiter Deutschland nachweislich schmutzige Kohlekraftwerke zwecks Versorgungssicherheit aus der Reserve holt und seine letzten Meiler stilllegt, um ja nicht am Atomausstieg rütteln zu müssen, und natürlich weiterhin fleißig Gas importiert, solange es die Amerikaner mittels des ach so verpönten Frackings aus dem Boden pressen und die Leitungen nach Russland gekappt sind. Bei so viel Schizophrenie wird nicht nur Greta verrückt.