LeitartikelGeostrategie

Europäer unterschätzen den amerikanischen Opportunismus

Europa unterschätzt die Skrupellosigkeit von US-Politik und -Wirtschaft. Um nicht konstant abgekocht zu werden, müssen die EU und ihre Wirtschaftsvertreter künftig selbst weniger berechenbar agieren.

Europäer unterschätzen den amerikanischen Opportunismus

Geostrategie

Amerikas kalter Opportunismus

Von Alex Wehnert

Europa unterschätzt die Skrupellosigkeit amerikanischer Partner. Um nicht konstant abgekocht zu werden, müssen die EU und ihre Wirtschaftsvertreter selbst unberechenbarer agieren.

Die Handelspolitik von US-Präsident Donald Trump sollte für Europa eigentlich ein Weckruf sein. Doch nicht nur politische Akteure in Brüssel und Berlin, sondern auch die Privatwirtschaft unterschätzen anhaltend, wie kaltblütig ihre amerikanischen „Partner“ ihre globale Vormachtstellung zu festigen suchen. Darüber, wie sich die Europäische Union bei dem im Juli geschlossenen Handelsabkommen mit Washington über den Tisch hat ziehen lassen, haben sich schon ausreichend Ökonomen und Politiker aus den Mitgliedstaaten ereifert. Verblüffend ist aber die Blauäugigkeit, mit dem viele Vertreter der Staatengemeinschaft auf die künftigen transatlantischen Handelsbeziehungen blicken.

Keine Anreize für Entgegenkommen

Der Deal solle nur ein Startpunkt für weitere Verhandlungen sein, hieß es zuletzt – und selbst Europa-Parlamentarier, die Kritik an der Vereinbarung üben, treten dabei überraschend optimistisch auf. Der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Internationalen Handel, Bernd Lange, merkte am Mittwoch zwar richtigerweise an, dass das Abkommen keine Sicherheit biete. Zugleich forderte er eine schnellere Arbeit der EU am Abbau sektorspezifischer Zölle. Die Hoffnung darauf, dass sich die „Tariffs“ von 50% auf Einfuhren von Stahl und Aluminium in die USA noch reduzieren lassen, ist auch von deutschen Wirtschaftsvertretern in New York zu vernehmen. Welchen Anreiz Trump haben sollte, Europa diesbezüglich entgegenzukommen, erschließt sich allerdings nicht.

Die europäischen Vertreter haben dem Republikaner gegenüber oft genug ihre schwache Seite gezeigt – für den Mann im Weißen Haus stellt das eine Einladung dar, weiter im Stile eines Schulhofschlägers auf diese einzuprügeln. Doch wenngleich Trump schon in seiner ersten Amtszeit gezeigt hat, wie wenig ihm ordnungsgemäße Verfahren bedeuten, und obwohl er bei der Missachtung politischer Spielregeln in seiner zweiten Präsidentschaft noch eine Schippe draufgelegt hat, hält sich in Europa der Irrglaube, dass mit diesem Präsidenten auf Ebene der diplomatischen Vernunft zu verhandeln ist.

Extreme Ausgeburt einer skrupellosen Ökonomie

In Deutschland hat sich seit dem Antrittsbesuch von Friedrich Merz (CDU) gar das von der „Bild“-Zeitung geflissentlich vorangetriebene Narrativ ausgebreitet, der Bundeskanzler habe „einen guten Draht“ zu Trump. Dafür reichten einige freundliche Worte des Republikaners aus, denen aber weitere unfreundliche Taten folgten. Für Europa gilt es endlich zu verstehen: Unter Trumps Führung regiert die Willkür – und auch US-Gerichte, die den Großteil seiner Zölle zuletzt für illegal erklärten, werden ihn nicht davon abhalten, übermorgen gerade erst geschlossene Abkommen in den Wind zu schlagen und „Handelspartner“ mit neuen protektionistischen Maßnahmen zu überziehen.

Trump ist nur die extreme Ausgeburt einer US-Ökonomie, die mit dem regelbasierten, zunehmend an moralischen Grundsätzen orientierten Vorgehen der europäischen Wirtschaft wenig gemein hat. Die Skrupellosigkeit, mit der amerikanische Wirtschaftsvertreter ihre arglosen europäischen Pendants auch künftig abzukochen drohen, zeigt sich im Energiesektor: Big Oil streckt bereits die Fühler nach Russland aus, obwohl in den Verhandlungen um einen Frieden in der Ukraine keine Lösung absehbar ist. So führte ExxonMobil mit Rosneft zuletzt angeblich Gespräche über eine Rückkehr zum Milliarden-Förderprojekt Sachalin-I, aus dem sich die Texaner 2022 nach der Invasion der Ukraine zurückgezogen hatten.

Europa überschätzt gemeinsame Basis mit USA

Europäer mögen sich Amerikanern aufgrund der einfachen sprachlichen Verständigung und kulturellen Überschneidungen nah fühlen. Wer längere Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht hat, muss aber einsehen, dass diese Basis schnell erschöpft ist. Das zeigt sich schon auf der Mikro-Ebene mit Blick auf die Verbindlichkeit von Absprachen zwischen Geschäftspartnern – und setzt sich im Großen bei der Einstellung zu einer opportunistischen Geostrategie fort.

Dies ist keineswegs als Aufruf zu verstehen, es der US-Wirtschaft in ihrer Skrupellosigkeit gleichzutun. Amerikanische Banken und Vermögensverwalter haben mit ihrem opportunistischen Vorgehen in puncto Nachhaltigkeit beispielsweise jegliche Glaubwürdigkeit verspielt: Jahrelang vermarkteten sie klimafreundliches und soziales Wirtschaften als Megatrend, um dann beim ersten politischen Gegenwind einzuknicken. Ihre europäischen Pendants tun gut daran, an ihren Versprechen gegenüber Kunden und Anlegern festzuhalten. Und Trump, Exxon und Konsorten könnten mit ihrem Opportunismus durchaus noch auf die Nase fallen, wenn sie an russische und chinesische Kontrahenten geraten, die sich noch weniger um rechtliche Grundlagen scheren.

Schwäche in Stärke ummünzen

Doch Europa muss sich gewahr werden, dass es mit dem geübten Vertragsbrecher Trump keine verbindlichen Vereinbarungen geben wird – und darf sich nicht ständig vom erratischen Kurs der USA überraschen lassen. Vielmehr sollte die EU selbst weniger ausrechenbar kommunizieren und agieren. So ließe sich auch die Schwäche, als Gemeinschaft von Nationalstaaten mit Partikularinteressen nicht immer mit einer Stimme sprechen zu können, in internationalen Verhandlungen in eine Stärke ummünzen. Das setzt allerdings den Mut Europas zu unkonventionellem Handeln voraus.