Europas Herausforderungen im All
Europas Herausforderungen im All
Europas Herausforderungen im All
Die ESA-Ministerratstagung muss die Weichen für die Zukunft stellen, um den Rückstand bei wiederverwendbaren Raketen und Satellitenkonstellationen aufzuholen. Sie muss auch die Grundlagen für eine gemeinsame Verteidigungsstrategie im All legen.
wü Paris
Von Gesche Wüpper, Paris
Eine Nationalstraße, umgeben von üppigem Gebüsch. Zwei riesige Raubvögel ziehen am strahlend blauen Himmel ihre Runden. Hier und da tauchen am Straßenrand ungewöhnliche Straßenschilder auf, die vor exotischen Tieren wie Jaguaren oder Ameisenbären warnen. Ein Nationalpark, könnte man auf den ersten Blick meinen. Wären da nicht vereinzelte, kilometerweit voneinander entfernte Türme, die von Weitem an Silos erinnern. In Wahrheit handelt es sich um Startrampen für Raketen. Sie stehen auf dem Gelände des europäischen Weltraumbahnhofs Kourou in Französisch-Guyana, einem der am günstigsten gelegenen Raketenstartplätze der Welt — und dem wichtigsten Garanten für Europas freien Zugang zum Weltall.
„Ein eigenständiger Zugang zum Weltraum, lautet die Devise“, sagt Michel Debraine, der als Repräsentant der ESA (European Space Agency) für den Weltraumbahnhof Centre Spatial Guyanais (CSG) in Kourou zuständig ist. Autonomie und Eigenständigkeit, diese Schlüsselworte fallen immer wieder, wenn es derzeit um die europäische Weltraumstrategie geht. Während die USA und China, gefolgt von Russland, um die Vorherrschaft im Weltall ringen, hinkt Europa hinterher. Um nicht den Anschluss zu verpassen, müssen die 23 Mitgliedsstaaten jetzt auf der ESA-Ministerratssitzung in Bremen am 26. und 27. November die Weichen für die Zukunft stellen.
Gemeinsame Verteidigung
Es geht nicht nur darum, den Rückstand zu Space X und Starlink bei wiederverwendbaren Raketen und Satellitenkonstellationen aufzuholen. Es geht auch darum, einen Rückzug der NASA aus Kooperationsprojekten sowie eigene bemannte Raumfahrtmissionen vorzubereiten. Gleichzeitig müssen die ESA-Staaten auch die Grundlagen für eine gemeinsame Verteidigungsstrategie im Weltraum legen. Denn das All spielt bei der Verteidigung eine immer wichtigere Rolle.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat bei der Einweihung des Weltraum-Befehlsstandes der französischen Armee in Toulouse gerade den Ton vorgegeben. Das All „ist kein Schutzgebiet mehr, sondern ein Schlachtfeld“, sagte er. „Der Krieg von heute findet schon im Weltraum statt, und der Krieg von morgen wird im Weltall beginnen“, ist Macron überzeugt. „Seien wir bereit. Das wird eine Bedingung für den Erfolg von Militäroperationen am Boden, in der Luft und auf dem Wasser sein.“ Bereits jetzt werde der Weltraum von immer heftigeren, aggressiveren Konflikten unter dem Einsatz von Stör- und Blendsendern sowie Spionagesatelliten geprägt. Während Russland offenbar die Entwicklung von Atomwaffen im Weltall vorantreibt, haben die USA unter Donald Trump beschlossen, Milliarden in den „Golden Dome“ zu investieren, eine Weltraum-Raketenabwehr.
Rückstand aufholen
In Europa entfallen nach Angaben von ESA-Chef Josef Aschbacher gerade mal 15% der öffentlichen Weltraumausgaben auf die Verteidigung, 85% auf zivile Anwendungen. Weltweit beträgt das Verhältnis dagegen 50-50. Dieses Rückstands wird sich Europa jetzt zunehmend bewusst. So will Deutschland nach Angaben von Verteidigungsminister Boris Pistorius bis 2030 insgesamt 35 Mrd. Euro für Weltraumprojekte und eine Sicherheitsarchitektur im All bereitstellen. Macron wiederum kündigte gerade an, im selben Zeitraum 4,2 Mrd. Euro zusätzlich zu den bereits vorgesehenen Investitionen von 6 Mrd. Euro für Weltraumverteidigung ausgeben zu wollen.
Schwerpunkte verschieben sich
Das Programm European Resilience from Space (ERS), das die ESA jetzt vorbereitet, zeigt ebenfalls, wie sich die Schwerpunkte der europäischen Weltraumstrategie verschieben: weg von rein zivilen Misssionen hin zu Systemen, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Auch rein militärische Anwendungen sind in dem Programm, zu dem Erdbeobachtung, Telekommunikation und PNT („positioning, navigation, timing“) gehören sollen, vorgesehen. Es soll die Grundlage für eine künftige europäische Initiative legen, die durch den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union finanziert werden soll. Dieser wird jedoch nicht vor 2028 verabschiedet werden.
Umso wichtiger sei es, bereits jetzt die Weichen zu stellen, um das Programm später so schnell wie möglich umsetzen zu können, argumentiert ESA-Chef Aschbacher. „In dieser Zeit schneller Umbrüche gibt es einen dringenden Bedarf, europäische Initiativen durch die Abstimmung von Verteidigungskapazitäten aus dem Weltraum zu synchronisieren, Dopplungen zu vermeiden und Ressourcen für Skalierung zu bündeln“, erklärt er. „Wir sind noch immer zu zersplittert, um Europa eine echte, umfassende und autonome Weltraumresilienz garantieren zu können.“ Das müsse sich ändern.
Erhöhung des Budgets
Als Budget schlägt Aschbacher etwas mehr als 1 Mrd. Euro für das ERS-Programm vor. Beobachter erwarten, dass die ESA-Minister ihre Zustimmung geben werden, auch wenn nicht alle Mitglieder der Europäischen Raumfahrtagentur der EU angehören und umgekehrt. Doch auf alle hat der Ukraine-Krieg wie ein Weckruf gewirkt. Die EU-Kommission hat deshalb gerade einen neuen Fünfjahresplan zur Stärkung der Verteidigungskapazitäten vorgeschlagen, die sogenannte „Preserving Peace – Defence Readiness Roadmap 2030“. Darin vorgesehen ist auch ein „European Space Shield“.
Das für die ERS-Initiative vorgesehene Geld sei im Vergleich zum Gesamtbudget zwar nur ein kleiner Betrag, doch strategisch bedeutend, erklärte ESA-Chef Aschbacher vor der Journalistenvereinigung AJPAE in Paris. Er will die Mitgliedsstaaten auf der Ministerratssitzung überzeugen, 2026 bis 2028 insgesamt 22 Mrd. Euro in Weltraumprojekte zu investieren. Das wären rund 5 Mrd. Euro mehr als im Zeitraum 2023 bis 2025. Erdbeobachtung macht mit 30% einen Großteil des erhofften Budgets aus, während für Trägerraketen 3,5 Mrd. Euro und für die Weltraumerkundung 3,9 Mrd. Euro vorgesehen sind. Im Vergleich zu den Investitionen der Nasa in diesen Bereich ist das noch immer ein Klacks. Denn die US-Weltraumagentur gibt rund die Hälfte ihres jährlichen Budgets von zuletzt 25 Mrd. Dollar für den Bereich Erkundung aus.
Deutschland und Italien stocken auf
„Europa kann es sich nicht leisten, weiter zurückzufallen“, mahnt Aschbacher. Der Anteil der ESA-Mitgliedsstaaten an den weltweiten Raumfahrtinvestitionen sei bereits geschrumpft und in den letzten fünf Jahren von 15% auf 10% gesunken. Zum Vergleich: Der Anteil der USA beträgt 60% und der Chinas inzwischen 15%. „Das beunruhigt mich“, sagte Aschbacher jetzt „Les Echos“. „Wenn es so weitergeht, laufen wir Gefahr, von dem weltweiten Wettrennen ums All ausgeschlossen zu werden.“ Überall in der Welt stiegen die Weltraumbudgets. Gleichzeitig wachse der Sektor mit rund 10% pro Jahr deutlich schneller als andere Branchen wie Transport und Energie.
Deutschland und Italien haben bereits signalisiert, ihre Beiträge zum ESA-Budget wesentlich erhöhen zu wollen. Bundesforschungsministerin Dorothee Bär rechnete zuletzt mit 5 Mrd. Euro. Das wären 1,5 Mrd. Euro mehr als zuletzt, aber weniger als die von den Raumfahrt-Standorten Bremen, Bayern und Baden-Württemberg geforderten 6 Mrd. Euro. Italien wiederum könnte dem Vernehmen nach von 3 auf 3,5 bis 4 Mrd. Euro aufstocken.
Produktionssteigerung
Dagegen dürfte der Beitrag des bisher wichtigsten ESA-Finanziers Frankreich wegen der desolaten Lage der öffentlichen Finanzen nicht mehr als 3,2 Mrd. Euro betragen, heißt es in Paris. Bei einigen französischen Branchenkennern klingen deshalb bereits Befürchtungen durch, Frankreich könne seine Führungsrolle in der europäischen Raumfahrtbranche verlieren. Derzeit verfügt es in Europa über die wichtigste industrielle Basis dafür.
„Unsere Industrie ist exzellent“, meint ESA-Chef Aschbacher. Doch für sie gehe es jetzt darum, nicht noch weiter zurückzufallen. Ein Blick auf die Raketenstarts im letzten Jahr zeigt die Dringlichkeit. Während Europa gerade mal drei durchführte, kamen die USA auf 156 und China auf 68. „Die Trägerraketen-Krise ist aber vorbei“, stellt Aschbacher klar. Nach ihrem ersten Start Mitte 2024 ist die neue europäische Trägerrakete Ariane 6 in diesem Jahr bereits drei Mal erfolgreich ins All geflogen. Im Dezember soll sie erneut abheben, im nächsten Jahr dann acht Mal. Für 2027 hat Betreiber Arianespace dann mit neun bis zehn Starts die Höchstrate vorgesehen. „Das ist die schnellste Hochfuhr bei einer schweren Trägerrakete“, sagt ESA-Chef Aschbacher. Selbst der heute oft als Vorbild genannte Space-X-Konzern von Elon Musk kam anfangs nicht auf solche Raten.
Zulieferer sind vorbereitet
Maßgeblich beteiligt an dieser Steigerung ist Ralf Stücker, der als Head of Launcher Exploitation bei der Ariane-Gruppe für das Ariane 6-Programm verantwortlich ist. Mit der Hochfuhr komplexer Programme kennt er sich aus, denn vor seinem Wechsel zu der Raketenbautochter von Airbus und Safran hat er bei dem europäischen Flugzeugbauer mit am A320-Programm gearbeitet. „Unsere Zulieferer haben sich alle auf eine Produktionsrate vorbereitet“, sagt er. Deshalb sei er zuversichtlich, dass die geplante Steigerung gelingen werde.
Im Gegensatz zu Airbus gebe es keine Zulieferer, die hunderte von Flugzeugsitzen liefern müssen und die Fertigung deshalb mit Verzögerungen gehörig aus dem Takt bringen können. „Es geht bei uns um kleinere Stückzahlen.“ In Kourou wachen Stücker und seine Mitarbeiter gerade darüber, dass das obere und untere Modul der Ariane-Rakete, die vor Ende Dezember zwei Galileo-Satelliten ins All bringen soll, zusammengebaut werden. Sie sind von dem Canopée-Segelfrachter des Raketenbauers aus Europa nach Französisch-Guyana gebracht worden.

Von dem für Trägerraketen vorgesehenen Budget, über das die ESA-Minister jetzt in Bremen beraten, sind Zweidrittel für die bestehenden Programme Ariane 6 und Vega C vorgesehen, ein Drittel für ihre Weiterentwicklungen. Die Raumfahrtagentur bereitet mit ihrem Launcher-Wettbewerb die Zeit nach 2035 vor. Unter zwölf Bewerbern, auf kleinere Raketen spezialisierten Startups, hat sie eine Vorauswahl getroffen: Isar Aerospace und Rocket Factory Augsburg (RFA) aus Deutschland, die Ariane-Tochter MaiaSpace aus Frankreich, PLD Space aus Spanien und Orbex aus Großbritannien.
Damit sie definitiv auserkoren werden, müssen die Kandidaten bis spätestens 2027 einen erfolgreichen Start absolviert haben. Sie müssten jetzt ihre Kapazität, zu wachsen, unter Beweis stellen, sagt Aschbacher. Um wettbewerbsfähig sein zu können, müssten sie wiederverwendbare Raketen bauen. „Nicht alle werden es schaffen.“
Neue Konkurrenz
Auf dem Gelände der ehemaligen Abschussrampe der Diamant-Trägerrakete in Kourou soll eine neue Multi-Launcher-Anlage auf 120 Hektar Platz für bis zu fünf private Raketenbetreiber bieten. Seit 2019 hat die ESA 240 Mill. Euro in Modernisierung und Digitalisierung des Weltraumbahnhofs investiert. Nach sieben Raketenstarts in diesem Jahr hofft er 2030 auf 30. Isar Aerospace, RFA, PLD Space und Latitude haben alle Vorverträge mit der französischen Weltraumagentur CNES unterzeichnet, der die 600 Quadratkilometer große Liegenschaft des CSG gehört. Für ihren ersten, nur 30 Sekunden währenden Testflug ist Isars Rakete jedoch vom norwegischen Andøya Spaceport aus gestartet.
PLD Space hat mit den Arbeiten in Kourou begonnen. MaiaSpace wiederum will dort die ehemalige Soyuz-Startrampe nutzen. Vermutlich würden nicht alle Startups nach Kourou kommen, meint Michel Debraine von der ESA. Entscheidend für die Hochfuhr von Starts seien auch freie Slots, sagt er. Deshalb sieht er andere, kleine Weltraumbahnhöfe, die jetzt in Europa entstehen, auch als Ergänzung, nicht als Konkurrenz. Zumal von Kourou aus alle Umlaufbahnen erreicht werden können und wiederverwendbare Raketen Platz benötigen. Und den gibt es in Kourou reichlich.

