Notiert inLondon

Fahrradboom und Arbeit von zu Hause

Der Fahrradboom setzt sich in London ungebrochen fort. Doch die Hauptstadtbewohner sind insgesamt weniger unterwegs als vor der Finanzkrise.

Fahrradboom und Arbeit von zu Hause

Notiert in London

Stadt der Stubenhocker

von Andreas Hippin

Glaubt man Transport for London (TfL), gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich der Fahrradboom in der britischen Metropole abschwächt. Seit 2019 ist die Zahl der Zweiradtrips um 43% gestiegen. Im laufenden Jahr waren es 1,5 Millionen pro Tag. Wer in der City arbeitet, sieht allmorgendlich den steten Strom von Radfahrern, der sich über Southwark Bridge und London Bridge in die Square Mile ergießt.

Nicht jeder sieht das positiv. Denn die Gefahr, dass einen ein rücksichtsloser Bürohengst, der im Geiste für Olympia trainiert, anfährt, ist real. Auch Fahrradkuriere sind nicht unbedingt dafür bekannt, sich an Verkehrsregeln zu halten.

Johnsons Vermächtnis

Dennoch ist es eine große Errungenschaft, dass so viele den vom ehemaligen Hauptstadtbürgermeister Boris Johnson propagierten Umstieg auf den Drahtesel vollzogen haben. Zuvor dachten noch viele, das Fahrrad sei ein Verkehrsmittel für Menschen, die sich kein anderes leisten können. Inzwischen ist es für manchen Banker ein Statussymbol. Neue Bürotürme in der City bieten reichlich Stellplätze für Räder. Auch für Duschen ist gesorgt.

Johnson wies Radwege im Stadtzentrum aus. Sein Labour-Nachfolger Sadiq Khan baute das Radwegenetz weiter aus. Es wuchs von 90 km im Jahr 2016 auf inzwischen 431 km. Bis 2030 sollen zwei Fünftel der Bevölkerung innerhalb von 400m Entfernung zu einem sogenannten TfL Cycleway leben. Schafft man die Infrastruktur, kommen die Nutzer ganz von selbst. Für fast ein Drittel aller Wege, die sie per Rad zurücklegen, nutzen Londoner die Cycleways. Dabei machen sie nur 2,5% aller Straßen aus, die befahren werden könnten.

Leihfahrräder leisten ihren Beitrag

Leihfahrräder von Anbietern wie Lime, Forest oder Voi, die allerorten die Gehwege blockieren, haben ihren Teil zur Popularität des umweltfreundlichen Verkehrsmittels beigetragen. Rund ein Zehntel aller Zweiradtrips werden der Statistik des Nahverkehrsbetreibers zufolge auf ihnen zurückgelegt. Das dürfte vor allem zu Lasten der Busse gehen. Sie waren zuvor das bevorzugte Transportmittel für den Weg zur U-Bahnstation.

All das erweckt den Eindruck, als habe man es mit einer unglaublich dynamischen Bevölkerung zu tun, die den Weg zur Arbeit für die körperliche Ertüchtigung nutzt. Doch wirft man einen genaueren Blick in den Datenwust, den Transport for London alljährlich veröffentlicht, zeigt sich, dass Londoner über alle Verkehrsmittel hinweg insgesamt weniger Fahrten zurücklegen. Waren es vor der Finanzkrise noch im Schnitt 2,6 pro Kopf und Tag, sind es heute nur noch 2,0.

Arbeiten von zu Hause

London droht also zur Stadt der Stubenhocker zu werden. Das zunehmende Durchschnittsalter seiner Bewohner mag dabei durchaus eine Rolle spielen. Doch gibt es noch einen anderen Faktor: Die Pandemie ist zwar schon lange vorbei. Aber ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung wird immer noch ermutigt, von zu Hause zu arbeiten. Der Anteil derjenigen, denen das nicht möglich ist, ging von 59% im Jahr 2019/20 auf 50% zurück.