Fluchtinstinkte in Delaware
Fluchtinstinkte in Delaware
Notiert in Wilmington
Fluchtinstinkte in Delaware
Von Alex Wehnert
Der Mitarbeiter des Secret Service kommt sofort aus seinem Verschlag gestürmt. „Ihr könnt euch hier nicht aufhalten, Jungs“, ruft er den Insassen des weißen Kia Sportage zu, die soeben aus dem auf der anderen Straßenseite geparkten Auto gestiegen sind. Mit „hier“ meint der Sicherheitsmann die Barley Mill Road in Wilmington, Delaware. Denn auf der anderen Seite der niedrigen Pforte, durch die gerade ein dunkler Subaru Forester des Ministeriums für Heimatschutz gefahren ist, liegt der Wohnsitz von Ex-US-Präsident Joe Biden. Angesichts der aufgeheizten politischen Stimmung in den Vereinigten Staaten zögern die Urlauber, die einen Blick auf das kleine Anwesen erhaschen wollten, nicht, der nachdrücklichen Aufforderung des Secret-Service-Mitarbeiters nachzukommen und möglichst schnell das Weite zu suchen.
Bastion für Unternehmen
Delaware, den zwischen Maryland, Pennsylvania, New Jersey und dem Atlantik eingekesselten zweitkleinsten Staat der USA, können sie dabei schnell hinter sich lassen. Ähnliche Fluchtinstinkte entwickeln derzeit auch viele Unternehmen, die in dem Ostküsten-Anrainer ihren Rechtssitz haben. Denn Delaware ist aufgrund günstiger Steuerregelungen und eines vorteilhaften Rechtssystems zwar eine Bastion für Unternehmen: Rund 2,1 Millionen Gesellschaften und noch immer rund 60% der Fortune 500 sind dort inkorporiert. Doch strikte Regeln für Unternehmen mit dominanten Investoren sorgen bei Gründern sowie Private-Equity- und Venture-Capital-Gesellschaften schon länger für Frust.
Staaten wie Nevada und Texas wittern darin seit einiger Zeit Chancen, mit einer laxeren Auslegung des Aktionärsrechts Unternehmen anzuziehen. Einen Präzedenzfall schuf Tesla-CEO Elon Musk, der Anfang 2024 gegen Delaware zu wüten begann. Eine dortige Richterin hatte nach einer Aktionärsklage ein bis zu 56 Mrd. Dollar schweres Vergütungspaket für den reichsten Menschen der Welt gekippt. Der Milliardär setzte den Tesla-Miteigentümern 2024 daher die Pistole auf die Brust: Entweder sie stimmten für eine Wiederherstellung seines Kompensationsplans und einen Umzug der Inkorporierung nach Texas, oder Musk werde KI-Anwendungen künftig andernorts entwickeln – die eingeschüchterten Aktionäre knickten ein.
Große Abwanderung droht
Darauf kündigten auch weitere US-Unternehmen eine Verlegung ihrer Eintragung als Kapitalgesellschaft an, mit Meta Platforms prüft einer der schwersten US-Konzerne einen solchen Schritt. Und auch für OpenAI, die bei ihrer Umwandlung in ein gewinnorientiertes Unternehmen am Hauptsitz in Kalifornien wie auch am Rechtssitz in Delaware auf Hindernisse stößt, könnte dies laut Analysten eine Option sein. In dem Ostküstenstaat sind die Sorgen deshalb groß, machen Gebühren aus der Inkorporierung doch einen bedeutenden Anteil der bundesstaatlichen Einnahmen aus. Vielleicht ließen sich die Einbußen zumindest zu einem kleinen Teil auffangen, indem Delaware den Wohnsitz Joe Bidens in Wilmington als Touristenattraktion vermarktet.