Im BlickfeldRegierungskrise Frankreich

Frankreich fährt in den Nebel

Der Sturz der Regierung Frankreichs scheint unausweichlich. Der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone droht eine neue Phase der Ungewissheit.

Frankreich fährt in den Nebel

Frankreich fährt in dichten Nebel

Frankreichs Regierung droht der Fall und dem Land eine neue Phase der Ungewissheit.

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Von Gesche Wüpper, Paris

Es ist in Frankreich eine Zäsur, ein Neuanfang, der wichtiger als das Neujahrsfest ist. Gute Vorsätze und Veränderungen werden zur sogenannten Rentrée vorgenommen, nicht Anfang Januar. In diesem Jahr droht Frankreich bei der Rückkehr aus der traditionellen Sommerpause jedoch ein böses Erwachen, eine neue Reise ins Ungewisse. Denn eine Woche nach Schulbeginn will Premierminister François Bayrou am 8. September die Vertrauensfrage zu seinem 44 Mrd. Euro-Sparplan stellen. Nur zwei Tage später dann will die nebulöse Bewegung „Bloquons Tout“ („Blockieren wir alles“) das Land mit Protesten lahmlegen.

Ernüchternde Rechenspiele

Der Sturz der Minderheitsregierung erscheint unausweichlich. Nach Bayrous überraschender Ankündigung erklärten Montagabend quasi alle Oppositionsparteien, dass sie bei der Vertrauensfrage gegen ihn stimmen wollen, von Grünen und Sozialisten über Kommunisten bis zu den Extremisten von La France Insoumise (LFI) am linken und dem Rassemblement National (RN) am rechten Rand. Zusammen kämen sie theoretisch auf 330 Stimmen.

Dagegen verfügen die an der Regierung beteiligten Parteien Renaissance, Modem, Horizons und Les Républicains (LR) zusammen nur über 207 Abgeordnete. Im Gegensatz zum Misstrauensvotum, für das 289 Stimmen in der 577 Sitze zählenden Assemblée notwendig sind, genügt bei der Vertrauensfrage die Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Stimmen, Enthaltungen oder leere Stimmzettel ausgeschlossen.

Wenig Chancen für Kompromiss

Die Chancen, dass es Bayrou gelingt, bis zum 8. September doch noch zumindest einen Teil der Opposition von seinen Haushaltsplänen zu überzeugen, sind relativ gering. Denn es ist ihm auch in den acht Monaten seit dem Antritt seiner Regierung nicht geglückt, sich etwa mit den Sozialisten auf einen Kompromiss zu verständigen.

Um das letztes Jahr auf 5,8% gestiegene Defizit nächstes Jahr auf 4,6%, bis 2028 auf unter 3% zu senken und die auf 113% des Bruttoinlandprodukts (BIP) angewachsene Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen, sieht der Haushaltsentwurf der Regierung Einsparungen und zusätzliche Einnahmen von 43,8 Mrd. Euro vor. Staats- und Sozialausgaben samt Renten sollen auf dem Niveau von 2025 eingefroren, jede dritte aus Altersgründen frei werdende Beamtenstelle nicht ersetzt, zwei Feiertage gestrichen und Steuererleichterungen begrenzt werden.

Reichensteuer gefordert

Viel zu viele Einsparungen, mit zu starken negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und den Konsum, den traditionellen Wachstumsmotor der französischen Wirtschaft, kritisiert die linke Opposition. Sie fordert stattdessen, Super-Reiche mit einer neuen Steuer stärker zur Kasse zu bitten. Ein von den Sozialisten im Sommer erarbeiteter Gegen-Haushalt sieht zudem deutlich weniger Einsparungen vor. 20 bis 30 Mrd. Euro Haushaltsanstrengungen seien ausreichend, findet Sozialisten-Chef Olivier Faure.

Bayrou überrascht Regierung

Der Haushaltsentwurf der Regierung Bayrous berge große Erfüllungsrisiken, urteilte Oddo BHF-Chefökonom Bruno Cavallier bereits nach der Vorstellung Mitte Juli. In dieser Form dürfte die Nationalversammlung ihn ablehnen. Kompromisse wiederum würden den Rhythmus des Defizitabbaus verlangsamen. Zudem enthalte der Haushaltsentwurf nichts, was den Anstieg der Staatsverschuldung abschwäche.

Im Bewusstsein, dass ein neuer Misstrauensantrag im Rahmen der Haushaltsdebatte unausweichlich wäre, hat sich Bayrou entschieden, die Flucht nach vorne anzutreten und die Vertrauensfrage zu stellen. Die Entscheidung hat selbst etliche Mitglieder seiner Regierung überrascht. Er habe sie nur eine halbe Stunde vor seiner Pressekonferenz am Montag darüber informiert, heißt es in Paris. Präsident Emmanuel Macron habe ihm letzten Donnerstag grünes Licht für sein Vorhaben gegeben.

Politisches Hara-Kiri

Bayrou nehme sein Schicksal selbst in die Hand, anstatt andere darüber bei einem Misstrauensantrag entscheiden zu lassen, loben einige der Kommentatoren. Der Premier gehe eine extrem gewagte Wette ein, urteilt die Wirtschaftszeitung „Les Echos“. Auf dem Papier sei sein Kalkül nicht dumm. Doch der Ausweg sei so klein wie ein Mauseloch. Es sei so wie das Bewusstsein der französischen Politiker, was die Tragweite der Situation angehe, nämlich quasi nicht vorhanden.

Die Entscheidung Bayrous sei eine Art politischen Hara-Kiris, meint Ifop-Generaldirektor Frédéric Dabi. Zumal es bereits letztes Jahr im Juni einen Versuch gegeben habe, dem Land einen Elektroschock zu versetzen. Doch der damals von Präsident Emmanuel Macron durch die überraschend angesetzten Neuwahlen erhoffte Befreiungsschlag ist nicht erfolgt. Im Gegenteil, denn seitdem ist die Nationalversammlung in drei ungefähr gleich große Blöcke gespalten.

Vertrauen leidet

Vor allem aber belastet die dadurch ausgelöste Ungewissheit das Vertrauen von Konsumenten und Unternehmen. Es ist im Juli weiter gesunken und liegt unter seinen langjährigen Durchschnittswerten. Die lange Suche nach einer Regierung im letzten Jahr und der Sturz von Premierminister Michel Barnier über einen Misstrauensantrag zum Haushaltsentwurf haben die ohnehin wegen der geopolitischen Situation herrschende Unsicherheit noch zusätzlich geschürt.

Ein Sturz der Regierung, die keine Parlamentsmehrheit habe, sei jetzt am 8. September sehr wahrscheinlich, meint Bantleon-Chefsvolkswirt Daniel Hartmann. Ob die Versuche Bayrous und anderer Regierungsmitglieder wie Wirtschaftsminister Eric Lombard fruchten, die Opposition zu umgarnen und zur Vernunft zu bringen, scheint fraglich. Bayrou erklärte Dienstag, er sei bereit, von sehr gut Verdienenden eine spezifische Anstrengung zu verlangen.

Verzweifelte Versuche

Im Rahmen des noch von seinem Vorgänger Barnier vorbereiteten Haushaltsgesetzes für 2025 hat Frankreich bereits eine zeitlich begrenzte Sondersteuer für große Konzerne eingeführt. Diese hat die Ergebnisse großer Unternehmen im ersten Halbjahr belastet.

Lombard wiederum erklärte, es gebe Verhandlungsspielraum, um sich mit der Opposition darauf zu verständigen, wie die Anstrengungen zur Defizitbekämpfung verteilt würden. An den geplanten Haushaltsanstrengungen von 44 Mrd. Euro lasse er jedoch nicht rütteln. Doch auch dagegen läuft die Opposition Sturm – zumal alle Parteien versuchen, sich jetzt mit solch in Frankreich stets ideologisch geprägten Debatten für die Kommunalwahlen im kommenden Frühjahr in Stellung zu bringen.

Haushaltskonsolidierung verzögert

Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung Bayrous fällt. Bantleon-Chefsvolkswirt Daniel Hartmann hält es für gut möglich, dass Macron jetzt wieder Neuwahlen ansetzen wird, da dann bereits zwei von ihm ernannte Premierminister gescheitet wären. „Die Mehrheitsverhältnisse nach Neuwahlen werden sich jedoch voraussichtlich kaum ändern“, meint er. „In Umfragen kommt das gemäßigte Mitte-Rechts-Lager nach wie vor nur auf knapp 30% der Wählerstimmen.“ Eine neue schwierige Regierungsbildung sei daher vorprogrammiert, so dass die dringend notwendige Haushaltskonsolidierung weiter auf sich warten lassen dürfe, erklärt Hartmann.

Präsidentschaftswahlen im Visier

Macron ist jedoch nicht verpflichtet, die Nationalversammlung erneut aufzulösen, sollte die Vertrauensfrage scheitern. Er kann auch einfach einen neuen Premier mit der Regierungsbildung beauftragen. Dieser müsste dann eine Art Waffenstillstandsabkommen mit den Sozialisten oder dem rechtsextremen RN aushandeln, damit sie sein Kabinett unterstützen. Vor der Sommerpause gab es nach Angaben von Oddo BHF-Chefökonom Cavalier Gerüchte, dass Macron Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum neuen Regierungschef machen könnte.

Doch gerade die Oppositionsparteien von den extremen Rändern links und rechts dürften auch einer neuen Minderheitsregierung das Leben schwer machen. Denn sie haben eigentlich Macron selber im Visier. Indem sie eine Regierung nach der nächsten stürzen, wollen LFI und RN ihn zum Rücktritt drängen und vorgezogene Präsidentschaftswahlen erzwingen.

Amtsenthebungsverfahren gegen Macron

LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon kündigte Dienstag an, seine Partei werde am 23. September erneut einen Antrag auf ein Amtsenthebungsverfahren für Macron stellen. Das hatte LFI bereits vor einem Jahr getan. Denn es sei Macron, der für die derzeitige Situation Frankreichs verantwortlich sei, erklärte Mélenchon gegenüber dem Radiosender „France Inter“. Er sprach sich dort auch dafür aus, dass die Bewegung „Bloquons tout“ ihre Protestaufrufe aufrechterhalte, selbst wenn die Regierung Bayrous stürzen sollte.

LFI hatte sich dem Protestappell angeschlossen und für den 10. September zum Generalstreik aufgerufen. Dabei ist „Bloquons tout“ mehr als nebulös. Wie bei den Gilets Jaunes vor sieben Jahren ruft die Bewegung auf sozialen Netzwerken zu Protesten auf. Erstmals trat sie auf Telegram im Mai in Erscheinung, bevor sie von den Rechtsextremen und einigen früheren Gelbwesten aufgegriffen wurden. Frankreichs Rechtsextreme fahren seit einiger Zeit im Internet auch unter dem Slogan „C'est Nicolas qui paie“ eine Kampagne gegen die Regierung. Der einfache Mann, nämlich Nicolas, zahle brav die immer höheren Steuern, während andere das Sozialsystem ausnützten, so ihre vereinfachte Botschaft.

Investoren verunsichert

Die jetzt durch den drohenden Sturz verschärfte Ungewissheit sorgt Investoren. Die Risikoaufschläge auf französische Staatsanleihen legten weiter zu und der CAC 40 sah rot. Fast alle Werte gaben nach, allen voran Aktien von Banken, Autobahnbetreibern und stark vom französischen Markt abhängige Unternehmen. Aktien und Staatsanleihen könnten weiter unter Druck geraten, sollte Fitch am 12. September nach Moody's Frankreich ebenfalls abstufen. 

Banque de France-Chef Villeroy de Galhau appellierte Dienstag, „eine richtige öffentliche Debatte" in Frankreich über die Staatsverschuldung zu führen und wie man sie bekämpfen kann. „Wir können nicht ohne Anstrengungen aus dieser schwierigen Situation herauskommen“, sagte er der Regionalzeitung „Sud Ouest“.

„Das wichtige ist, dass diese Anstrengung so gerecht und am besten verteilt wie möglich ist.“

De Galhau wollte sich weder zu der von Bayrou angekündigten Vertrauensfrage noch zu den für den 10. September geplanten Protesten äußern. „Die Banque de France hat sich nicht zu einer politischen Abstimmung oder einer sozialen Bewegung zu äußern“, erklärte er. „Sie kann nur die wirtschaftliche Realität in Erinnerung rufen.“