Der ewige Konkurrenzkampf der lateinischen Brüder
Der ewige Konkurrenzkampf der lateinischen Brüder
Lateinische Brüder im ewigen Konkurrenzkampf
Frankreich und Italien sind sich sehr ähnlich, aber ihr Verhältnis wird von einer Art Hass-Liebe bestimmt und es kommt immer wieder zu Konflikten.
Von Gerhard Bläske, Mailand, und Gesche Wüpper, Paris
Sie sind beide bekannt für gute Küche und erlesene Weine, für kulturelles Erbe und Lebensart, für Mode und Luxus. Verbindende Gemeinsamkeiten. Stattdessen wird das Verhältnis zwischen Frankreich und Italien von Rivalitäten und einer Art Hass-Liebe dominiert. Vor allem seitens Italiens, das lange Zeit eines der wirtschaftlichen Schlusslichter Europas war und sich gedemütigt fühlte, weil französische Konzerne gerne im Bel Paese auf Einkaufstour gingen. Doch nun haben sich die Vorzeichen umgekehrt.
Plötzlich gilt Frankreich als geschwächt, während Italien Lob für seine Haushaltsführung erhält. War Italien früher für häufige Regierungswechsel bekannt, gilt es seit dem Amtsantritt von Premierministerin Giorgia Meloni als ungewöhnlich stabil. Dagegen steht Frankreich mit seinen Minderheitsregierungen seit der überraschenden Auflösung der Nationalversammlung im Sommer 2024 für politische Ungewissheit.
Schadenfreude in Rom
Schlimmer noch: Die Stürze von gleich zwei Regierungen wegen ihren Haushaltsentwürfen haben Anlegern vor Augen geführt, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone Defizit und Verschuldung nicht in den Griff bekommt. Investoren empfinden Frankreich inzwischen als riskanter als Italien. Ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt. Denn die Verschuldung Italiens ist mit 135% des Bruttoinlandsprodukts wesentlich höher und die Wirtschaft des Landes leidet ebenfalls unter einigen Schwächen. Doch in der Wirtschaft ist es so ähnlich wie beim Wetter. „Was zählt, ist die empfundene und nicht die tatsächlich gemessene Temperatur“, sagt ein Lobbyist. Und da ist Italien derzeit eindeutig im Vorteil.
Rom blickt nun mit einer gewissen Schadenfreude nach Frankreich, dem lateinischen Bruder, den man viele Jahre lang als arroganten Besserwisser empfunden hat. Italienische Medien berichten lang und breit über die politische Krise des Nachbarn, während sich italienische Politiker Sticheleien nicht verkneifen können. So beschuldigte Italiens Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron kürzlich, den Krieg in der Ukraine als Sprungbrett zu nutzen, um seine schwindende Popularität zu Hause aufzubessern.
Enge Verflechtungen
Salvini hatte Macron bereits zuvor als einen „Verrückten“ bezeichnet. Ex-Vizepremierminister Luigi Di Maio ist 2019 sogar eigens nach Frankreich gefahren, um die Gelbwestenbewegung zu unterstützen. Das Verhältnis zwischen Meloni und Macron ist eisig, das italienischer und französischer Rechtsextremer dagegen gut. Jordan Bardella, Vorsitzender des rechtsnationalen Rassemblement National, hetzte auf dem Parteifest der italienischen Lega gegen Frankreichs Regierung.
Doch zur Häme Italiens gegenüber Frankreich besteht kein Grund. Die beiden Länder sind aufeinander angewiesen. Immerhin war Frankreich letztes Jahr der zweitwichtigste Handelspartner Italiens nach Deutschland und Italien Frankreichs drittwichtigster Handelspartner nach der Bundesrepublik und Belgien.
Gleichzeitig ist Frankreich vom Bestand her der wichtigste Investor in Italien und der zweitwichtigste ausländische Arbeitgeber, da französische Investoren 2.282 Mehrheitsbeteiligungen an italienischen Unternehmen halten. Umgekehrt sind italienische Kapitalgeber an mehr als 2.000 französischen Unternehmen beteiligt. Italien findet sich jedoch nur auf Rang neun der Auslandsinvestoren Frankreichs.
Zurückgewonnenes Vertrauen
Das Verhältnis ist also nicht ganz ausgewogen, was die teilweise zu beobachtende Verbitterung erklären mag. Zumal viele italienische Modekonzerne wie Gucci, Loro Piana, Bulgari oder Berluti von französischen Luxusriesen wie LVMH oder Kering übernommen worden sind. Auch in der Lebensmittelindustrie und im Bankensektor befinden sich etliche italienische Gruppen wie Galbani, Parmalat, BNL und BPM in französischer Hand oder haben französische Großaktionäre. Meist funktioniert das gut — zum Wohle beider Seiten.
Unternehmen wie die Opel-Mutter Stellantis, der Chiphersteller STMicroelectronics oder Brillen-Spezialist EssilorLuxottica haben französische und italienische Großaktionäre. Immer wieder gibt es Streit, weil sich die italienische Seite übervorteilt fühlt. Das geplante Joint Venture zwischen den Vermögensverwaltern Natixis Investment Managers und Generali Investment Holding dürfte wegen des Widerstands Roms wohl nicht zustande kommen. Das schadet beiden Seiten.
Weitsichtige Rentenreform
Während Frankreich immer mehr an sich zweifelt, gewinnt Italien das Vertrauen der Investoren zurück. Vergessen scheinen die Zeiten, als italienische Staatsanleihen Anlegern zu riskant waren. So wie im November 2011, am Vorabend des Rücktritts der letzten Regierung Silvio Berlusconis, als der Zinsabstand zwischen deutschen und italienischen Zehnjahresanleihen 575 Basispunkte erreichte.
Auf Berlusconi folgte damals eine technische Regierung unter der Führung von Mario Monti, die die Finanzen in Ordnung brachte. Entscheidend dafür war eine sehr weitsichtige Rentenreform mit einer Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre, wobei das effektive Renteneintrittsalter deutlich niedriger ist. Trotz weiter steigender Schulden, Krisen, eines schwachen Wachstums und vieler instabiler Regierungen war die Situation für Italien nie mehr so kritisch wie 2011.
Renditen nähern sich an
Unter der als Neofaschistin verschrienen, seit 2022 amtierenden Meloni, ist Italien nun sogar zu einer Insel der Stabilität geworden. Der Spread zwischen deutschen und italienischen zehnjährigen Staatsanleihen ist zeitweise auf 78 Basispunkte gefallen, das niedrigste Niveau seit 15 Jahren, zuletzt aber wieder auf 104 gestiegen. Parallel hat sich der Zinsabstand zwischen den zehnjährigen Obligations Assimilables du Trésor (OAT) zu den Bundesanleihen seit der Ankündigung der vorgezogenen Parlamentswahlen im letzten Jahr vergrößert, auf derzeit 71.
Rom refinanziert sich inzwischen auf dem Niveau Frankreichs. Die Renditen der langfristigen Staatsanleihen haben sich angenähert. Während Italien seine während der Corona-Krise auf bis zu 155% gestiegene Verschuldung 2024 auf 135% zurückgeführt hat, sind Frankreichs Schulden auf 114% gestiegen. Italiens Defizit dürfte in diesem Jahr auf unter 3% sinken, das französische dagegen mit 5,4% noch immer deutlich über der Maastrichter Obergrenze liegen. Auch bei der Arbeitslosenquote steht Italien besser da: Mit zuletzt 5,8% liegt sie um knapp 2% unter der französischen. Allerdings ist die Beschäftigungsquote unter den 18 bis 64-Jährigen in Italien mit 62,5% sehr gering.
Größter Nutznießer
Dass Italien das Vertrauen der Märkte zurückgewonnen hat, hat das Land auch wesentlich diversen Hilfsprogrammen wie dem EU-NextGeneration-Programm über 200 Mrd. Euro, dessen größter Nutznießer Rom ist, zu verdanken. Die Wirtschaft profitierte außerdem von nationalen Programmen etwa zu ökologischen Sanierung von Wohngebäuden, die weitere 200 Mrd. Euro in die Wirtschaft pumpten, die Schulden nun aber wieder ansteigen lassen. Italienische Bonds finden reißenden Absatz, der Aktienmarkt explodiert und die Rating-Agenturen heben die Bewertung deutlich an — obwohl das Rating noch immer vier Stufen schlechter als die französischer Anleihen ist und die Regierung auf dringend nötige Reformen etwa des Wettbewerbsrechts verzichtet.
Frankreichs Deindustrialisierung
Rom hat keinen Anlass für Triumphgeheul gegenüber Paris, da auch Italiens Schulden wieder steigen und noch immer deutlich höher sind als die französischen. Entsprechend fällt auch die Last des Schuldendienstes Italiens deutlich höher als der Frankreichs aus.
Italiens Industriesektor ist zwar deutlich stärker als der französische und Italien ist nach Deutschland der mit einem Ausfuhrvolumen von etwa 625 Mrd. Euro zweitgrößte Exporteur der EU-Zone. Doch die Industrieproduktion ist seit Beginn des Ukraine-Krieges kontinuierlich gefallen. Seit Jahresanfang hat es sich stabilisiert – auf einem Niveau, das noch unter dem des Vor-Corona-Niveau liegt. Dagegen liegt sie in Frankreich darüber. Allerdings ist der Anteil der Industrie an der französischen Wirtschaft innerhalb der letzten 30 Jahre von 17% auf 11% gesunken, während er in Italien nur leicht auf zuletzt 18,6% zurückgegangen ist.

Bei den Exporten haben sich dunkle Wolken über Italien zusammengebraut. Denn die USA sind nach Deutschland der wichtigste Exportmarkt und stehen für 10,4% der Ausfuhren. Frankreich ist viel weniger exponiert. Exporte in die USA machen nur 1,5% des BIP aus. Allerdings ist das Handelsbilanzdefizit, das sich in den letzten 25 Jahren ausgeweitet hat, einer der Schwachpunkte Frankreichs, während Italien einen Überschuss von 55 Mrd. Euro aufweist. Zugpferde der französischen Exporte sind die Luftfahrt- und die Pharmlaindustrie, Lebensmittel und Spirituosen, Parfüms, Kosmetik und Luxusgüter.
Italien ist sehr exportstark
Eine der größten Stärken der italienischen Wirtschaft ist das Netz an mittelständischen Unternehmen. Dank der Zugkraft des Made in Italy sind sie etwa in den Sektoren Maschinenbau, Jachten, Möbel, Mode und generell Luxusprodukten international eine Macht. Sie profitierten auch von niedrigen Löhnen: Seit 2021 gingen die Realeinkommen in Italien um 7,5% zurück. Die extrem vielen Kleinstunternehmen, denen nur wenige große Konzerne gegenüberstehen, haben oft nicht die Mittel, um in die Digitalisierung und Internationalisierung zu investieren. Das ist ein erheblicher Schwachpunkt.
Frankreich ist in Europa führend in der Luft- und Raumfahrtindustrie und glänzt mit international tonangebenden Schwergewichten wie LVMH, L’Oréal, Safran und BNP Paribas. Es zieht deutlich mehr internationale Investoren als Italien und andere europäische Länder an. Seit dem Brexit hat der Finanzplatz Paris zudem vom Zuzug etlicher Banken profitiert. Und mit der French Tech und KI-Hoffnungssträgern wie Mistral AI hat sich Frankreich einen Namen als Startup-Nation gemacht.
Die Wachstumsraten beider Länder haben sich zuletzt auf niedrigem Niveau einander angeglichen. Statt sich zu bekriegen, sollten sich Frankreich und Italien in einem Europa, das zunehmend an den Rand gedrängt wird, lieber zusammenraufen.

