Notiert in LondonWohnimmobilien

Geben und Nehmen

Egal ob die Wohnimmobilienpreise steigen oder fallen: Briten ziehen gerne um. Für die Nachbarn ist das nicht immer einfach.

Geben und Nehmen

Notiert in London

Geben und Nehmen

von Andreas Hippin

Londoner haben für das Zusammenleben in der Großstadt eine große Leidensfähigkeit entwickelt. Die Qualität der Bestandsimmobilien hat ihren Teil dazu beigetragen. Denn egal ob man sich für den Ehekrach der Nachbarn interessiert oder nicht, man erlebt ihn nahezu hautnah mit. Es ist ein ewiges Geben und Nehmen. Wer sich heute über Bohrgeräusche aus der Wohnung im oberen Stock ärgert, nervt im kommenden Jahr vielleicht schon die Familie, die im Erdgeschoss wohnt, mit seinem Schwingschleifer. Man spricht nicht darüber. Man würde schon gar nicht beim Nachbarn klingeln, um sich zu beschweren. Solange das Haus nicht in Flammen steht, will man den Anderen nicht in seinem Rückzugsraum belästigen.

Wer glaubt, dem engen Miteinander durch den Einzug in ein Reihenhaus entgehen zu können, hat sich getäuscht. Nur eine Reihe Ziegel trennt einen im viktorianischen Terraced House nachts vom brüllenden Säugling nebenan. Natürlich liegen die Schlafzimmer immer nebeneinander. Denn wenn es um das Layout ihres Heims geht, fehlt es den sonst so exzentrischen Inselbewohnern an Vorstellungsgabe. Der Master Bedroom ist grundsätzlich im ersten Stock mit Blick auf die Straße. Das ist so sicher wie der Umstand, dass es keine Toilette im Erdgeschoss gibt. Und so hofft man mit dem Baby, dass schnell jemand seinen Hunger stillen möge. Selbst kinderliebe Menschen packt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, wenn sie den Eindruck bekommen, dass die Nachbarin erneut schwanger ist.

Ein absoluter Launetöter ist, wenn das Haus nebenan plötzlich im Schaufenster eines der Immobilienmakler am nächstgelegenen Bahnhof zu sehen ist. Egal ob die Wohnimmobilienpreise fallen oder steigen: In Großbritannien wird im Laufe des Lebens häufiger umgezogen als in Deutschland. Mit Kindern kommt der Wunsch nach einer größeren Wohnung. Dann wird ein Tapetenwechsel nötig, damit man sich im Einzugsgebiet der gewünschten Grundschule befindet. Die richtige zu finden, ist eine Wissenschaft für sich. Wer es ernst meint mit der Erziehung seiner Kinder wechselt erneut den Wohnsitz, um der besten weiterführenden Schule nahe zu sein. Und mit zunehmendem Alter wächst der Wunsch nach Ruhe und zusätzlichen finanziellen Mitteln, die sich durch den Kauf eines billigeren Eigenheims auf dem Land freisetzen lassen.

Für Nachbarn sind Umzüge meist belastend. Denn obwohl eigentlich niemand seine Küche ins neue Heim mitnimmt, heißt das nicht, dass sich der neue Besitzer damit zufrieden gibt. Wer in London ein Haus kauft, hat in der Regel ausreichend Geld für aufwendige Sanierungsmaßnahmen. Es müssen ja nicht gleich Stahlträger eingezogen werden, um dem Stabilitätsbedürfnis der neuen Eigner gerecht zu werden. Es reicht ja schon, wenn Wände und Böden herausgerissen werden. Vielleicht entspricht auch der Farbton der Fliesen im Bad nicht ganz dem Geschmacksempfinden. Also nichts wie raus damit. Umziehen ist für viele Briten eine Form der Selbstverwirklichung. Eine ganze Reihe von Fernsehshows beschäftigt sich damit, wie man ein neues Heim sucht und das Beste daraus macht. Kirstie Allsopp und Phil Spencer tun das in der Reality-Serie “Location, Location” seit mehr als 20 Jahren. Da wird noch der Glaube gepflegt, der Immobilie vor dem nächsten Umzug mit wenig Aufwand großen Wert hinzufügen zu können.

Zumindest in einer Hinsicht machen Umzüge den Anwohnern keinen Ärger. Die potenziellen Käufer klingeln nicht, um sich ihre künftigen Nachbarn einmal anzusehen. Das ist einerseits erstaunlich, schließlich kauft man das Umfeld immer mit. Andererseits ist es schön, denn man will ja eigentlich gar keine neuen Leute kennenlernen. Schlimm genug, dass man sich in der Stadt die ganze Zeit Mühe geben muss, niemandem auf die Füße zu treten. Danach ist nichts schöner, als die Tür hinter sich zuzumachen und – My Home is My Castle – die relative Ruhe genießen zu können. Das wird respektiert, schon um das Verhältnis zum potenziellen künftigen Nachbarn nicht unnötig zu belasten.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.