Genua ist die Nagelprobe für Italien
Genua ist die Nagelprobe für Italien
Blickfeld
Mit Mitteln des europäischen Aufbauprogramms soll der Hafen zur Handelsdrehscheibe ausgebaut werden
Von Gerhard Bläske, Genua
Gerhard Bläske Genua
Nach Jahrzehnten des Niedergangs träumt Genua von einer glänzenden Zukunft. Rund um das Messegelände am Meer sind riesige Kräne und Maschinen im Einsatz. Bis Ende 2024 soll in der Hafenstadt ein neues Viertel aus dem Boden wachsen: Die Waterfront di Levante mit kleinen Kanälen, großzügigen Grünanlagen, Luxuswohnungen, Sportstätten, Co-Working Spaces, Ankerplätzen für Jachten und Geschäften.
500 Mill. Euro kostet das neue Quartier. Ein Teil stammt aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm. Italien erhält als größter Nutznießer 191,5 Mrd. Euro. Mehr als 10 Mrd. Euro davon sollen nach Genua fließen. Zusammen mit nationalen, regionalen und lokalen Geldern will die Stadt in den nächsten fünf bis sechs Jahren 20 Mrd. Euro investieren: in einen Tunnel, der den Hafen unterquert, in eine Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke, die die Fahrzeit nach Mailand, Zürich und Deutschland ab Ende 2025 drastisch reduziert. Die erste Stadt-Seilbahn Italiens soll errichtet werden. Zudem ist eine Autobahnumgehung (Gronda) geplant. Anfang Mai haben die Bauarbeiten für einen mehr als sechs Kilometer langen und 1,35 Mrd. Euro teuren Damm 800 Meter weit draußen im Meer begonnen. Damit sollen ab Ende 2026 Riesen-Schiffe mit über 18 Mill. TEU die Docks anlaufen können. Insgesamt fließen in den Ausbau des Hafens 3 Mrd. Euro.
Es herrscht Aufbruchstimmung. Davon zeugte auch der riesige Messestand der Hafenbehörde bei der Messe transport logistic Anfang Mai in München. Hafenchef Paolo Emilio Signorini, Genuas Bürgermeister Mario Bucci und Italiens Vizeminister für Infrastrukturen, Edoardo Rixi, waren angereist. Genua will künftig Antwerpen, Rotterdam und Hamburg Konkurrenz machen. „Wir sind der zentrale Mittelmeerhafen für Zentral- und Nordeuropa“, sagt Bucci. Transport- und Logistikunternehmen wie Hapag-Lloyd, MSC und Maersk bauen ihre Kapazitäten in Genua aus. Seit Mai gibt es zweimal wöchentlich eine Eisenbahndirektverbindung für den Warenverkehr zwischen dem Terminal des Logistikkonzerns PSA in Genua-Pra und Stuttgart.
Tourismus soll wachsen
Die Hoffnungen sind groß. Auch der Tourismus soll wachsen. Von Genua legen auch viele Kreuzfahrtschiffe ab und Ligurien ist ein beliebtes Reiseziel. „Wir wollen den Genuesern den Platz am Meer zurückgeben“, sagt Vizebürgermeister Pietro Piciocchi. Aus dem Fenster seines Büros im sechsten Stock des eleganten Palazzo Albini schaut er auf den alten Hafen. Der Zugang zum Meer war den heute 570.000 Bewohnern der einst mächtigen Seerepublik, die die Südamerika-Exkursionen ihres Sohnes Christoph Kolumbus für das spanische Königshaus finanzierte, Jahrzehnte versperrt. Renzo Piano, ein anderer großer Genueser und weltbekannter Architekt, öffnete den Hafen 1992. Nun, 30 Jahre später, soll mit der Waterfront di Levante der Rest seines großen Projekts Wirklichkeit werden. Europa sei dank!
Piciocchi träumt davon, dass Genua ein neues Barcelona wird, „nur noch schöner, denn wir haben Renzo Piano. Und wir haben eine herrliche Küste, das Klima ist mild, es gibt eine große Universität, viele Unternehmen. Genua kann zum größten Hafen Europas werden“.
Das Problem ist der Platzmangel. Werften, ein großes Stahlwerk, der sich über viele Kilometer hinziehende Hafen, Handel und Tourismus konkurrieren um den schmalen Landstreifen zwischen Meer und steilen Bergen. Das Genua der Zukunft setzt auf neue Technik, Robotik und künstliche Intelligenz, Projekte, die teils im Forschungsinstitut Istituto Italiano di Tecnologia (IIT) entstanden sind. Dessen langjähriger Leiter war Roberto Cingolani, der Ex-Minister für die digitale Transformation und heute Chef des Rüstungskonzerns Leonardo.
Auch das Unternehmen Amico am Rande des neuen Viertels ist ein Vorzeigebeispiel. Amico ist einer der weltweit größten Spezialisten für das „Refitting“ von Luxusjachten mit bis zu 120 Metern Länge. „Alle fünf bis zehn Jahre müssen die Schiffe komplett überarbeitet und erneuert werden“, erklärt CEO und Chairman Alberto Amico: „Der Weltmarkt für Luxusjachten, die häufig von italienischen Unternehmen gebaut werden, explodiert.“ Die Boote werden über Schiffslifte aufs Trockene gehoben und in gigantische Hallen gebracht. 50 Mill. Euro hat Amico investiert, um die Kapazitäten zu verdreifachen. Einen Steinwurf entfernt findet jedes Jahr im September eine der größten Messen für Jachten weltweit statt. Genua, Santa-Margherita, Rapallo oder Camogli bauen ihre Hafenkapazitäten für Jachten der Touristen aus.
Piciocchi ist optimistisch, dass Platz für alle ist. „Es braucht ein wenig Mut und guten Willen aller.“ Er verweist auf den Wiederaufbau der 2018 eingestürzten Autobahnbrücke in Genua, der so schnell ging, dass die ganze Welt staunte. Italien spricht vom „Modell Genua“: Italien kann es – wenn Bürokratie und lähmende Verwaltungsprozesse umgangen werden.
Doch der jahrzehntelange Investitionsstau des Landes lässt sich auch hier studieren. Die Autobahn nach Mailand wurde unter Diktator Benito Mussolini gebaut, die Bahnstrecke nach Mailand im 19. Jahrhundert. Die Gelder aus Europa sollen Genua und Italien einen Modernisierungsschub geben. Doch die Zweifel wachsen, dass dies gelingt. Brüssel droht, die nächste Hilfstranche des europäischen Aufbauprogramms über 19 Mrd. Euro nicht auszuzahlen. Italien könnte eine Jahrhundertchance verspielen.
„Das Problem geht auf das Jahr 2020 zurück, als eine Reihe von unzusammenhängenden Projekten konzipiert wurde, die nicht ausreichend kohärent waren, um das Wachstumspotenzial Italiens zu stärken. Von da an war alles kaskadenartig. Es ist jedoch nicht klar, warum die Europäische Kommission erst jetzt herausfindet, dass einige Projekte nicht gut laufen“, meint Gabriele Menotti Lippolis, Tourismusunternehmer und Präsident des Industriellenverbandes Confindustria im apulischen Bari. Ein Großteil der Maßnahmen ist blockiert. Laut italienischem Rechnungshof sind erst 6% der bisher aus Brüssel überwiesenen 67 Mrd. Euro ausgegeben worden.
Für Giuseppe Arleo, Unternehmensberater und Ökonom des Thinktanks Competere, liegt das an der „Schwerfälligkeit der öffentlichen Verwaltung und einer Bürokratie, die die Verfahren verlangsamt. Die tatsächliche und erhebliche Gefahr liegt in der zeitlichen Planung der Reformen und ihrer Umsetzung, um eine reibungslose Verwaltung der Mittel zu ermöglichen.“ Es fehle an Know-how und an qualifiziertem Personal.
Premierministerin Giorgia Meloni fordert eine Verlängerung der Frist für die Umsetzung der Vorhaben und lässt das Programm überarbeiten. Die Glaubwürdigkeit des hoch verschuldeten Landes ist erschüttert. Denn Italien erfüllt die Reformverpflichtungen nicht und gibt gleichzeitig 16% des Bruttoinlandsprodukts für das Rentensystem und Unsummen für unsinnige Maßnahmen aus.
Kritiker der Hilfen für Italien fühlen sich bestätigt. „Sollte das europäische Aufbauprogramm scheitern, wäre das ein Problem nicht nur für Italien, sondern für Europa“, glaubt Stefano Caselli, Dekan der renommierten Mailänder Bocconi School of Management.
Genua will zum zentralen Hafen für Mittel- und Nordeuropa werden.
Doch Eugenio Puddu, Partner der Wirtschafts- und Strategieberatungsgesellschaft Deloitte, ist optimistisch: „Wenn es kritisch wird, sind die Italiener entschlossen und zeigen sich reaktionsfähig. Genua ist eine internationale Handelsdrehscheibe und hat auch im Bereich von Bildung, Forschung und Entwicklung viel zu bieten. Die vielen kleinen Unternehmen müssen zusammenarbeiten und die sich ihnen jetzt bietenden Möglichkeiten nutzen.“