Notiert inLondon

Sozialvertrag am Ende

Britische Schüler bleiben der Schule häufiger fern als vor der Pandemie. Das Vertrauen in die Institution ist angeschlagen. Schulschließungen und Lehrerstreiks haben dazu beigetragen.

Sozialvertrag am Ende

Notiert in London

Sozialvertrag am Ende

Von Andreas Hippin

Was tun, wenn das Kind morgens nicht zur Schule will? In London ist man damit nicht allein. Die öffentlichen Schulen in England haben ein Problem: Mittlerweile sind Daten des Bildungsministeriums zufolge mehr als ein Fünftel der Schüler „ständig abwesend“. In den Jahren vor der Pandemie lag dieser Wert noch bei gut einem Zehntel. „Ständig abwesend“ bedeutet, dass die Kinder ein Zehntel oder mehr Schultage versäumen. Mehr als 140.000 sind „in hohem Maße abwesend“, bleiben also mindestens der Hälfte des Unterrichts fern.

„Partnerschaft“ zwischen Eltern und Schulen

„Jeder Tag, den unsere Kinder in der Schule sind, ist so unglaublich wichtig“, behauptet die Labour-Bildungspolitikerin Bridget Phillipson. Es müsse eine „Partnerschaft“ zwischen Schulen und Eltern hergestellt werden, aber auch zwischen Schulen und Regierung, denn auch Regierungen trügen Verantwortung. Tatsächlich hätte nach allem, was man weiß, ein größeres Engagement der Eltern positive Auswirkungen, nicht nur was die Anwesenheit der Kinder in den Schulen angeht.

Zerstörtes Vertrauen

Doch dürfte es schwer sein, das Vertrauen wiederherzustellen, das während der Lockdowns 2020 und 2021 zerstört wurde, als Eltern monatelang alleingelassen wurden. Vor allem ältere Lehrer hatten Angst, von ihren Schülern mit Sars-CoV-2 infiziert zu werden. Mary Bousted, die Generalsekretärin der linken Lehrergewerkschaft NEU, schlug vor, Kinder wie in der Volksrepublik China von vorn und hinten mit Desinfektionsmittel zu besprühen, bevor sie die Schule betreten. Zugleich weigerte sich das Lehrpersonal vieler öffentlicher Schulen strikt, online zu unterrichten.

Arbeitskampf auf Kosten der Schüler

Damit nicht genug: Als nach Ende der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen die Chance bestanden hätte, zumindest einen Teil des Versäumten aufzuholen, brachen die Lehrergewerkschaften einen Tarifkonflikt vom Zaun, dem nach Rechnung des Centre for Social Justice im Schuljahr 2022/23 insgesamt 25 Millionen Schultage zum Opfer fielen. Im Herbst vergangenen Jahres wurden mehr als 150 öffentliche Schulen ganz oder teilweise wegen Einsturzgefahr geschlossen, weil der verbaute Porenbeton als unsicher eingestuft wurde.

Misstrauen der Eltern

Einer von der Denkfabrik beauftragten Yougov-Umfrage zufolge stimmen fast drei von zehn Eltern (28%) der Aussage zu, die Pandemie habe gezeigt, dass es nicht unbedingt notwendig für Kinder sei, jeden Tag zur Schule zu gehen. Weniger als drei Viertel (70%) waren zuversichtlich, dass die Schule den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht werde. Bei den Eltern von Schülern weiterführender Schulen waren es lediglich drei Fünftel (61%).

Homeoffice spielt eine Rolle

„Es ist natürlich schwieriger, den Eltern zu vermitteln, dass ein verpasster Schultag hier und da wirklich eine Rolle spielt, wenn die Schulen vor nicht allzu langer Zeit sechs Monate lang dicht waren“, sagt Peter Lampl, der Gründer des Sutton Trust. Die Schulschließungen hätten den Sozialvertrag unterminiert, der dafür sorgte, dass Eltern ihre Kinder in die Klassenzimmer schickten, wenn sie nicht gerade krank waren. Aus seiner Sicht hat auch die Arbeit aus dem Homeoffice zum Anstieg der Abwesenheit beigetragen. Rachel de Souza, Children’s Commissioner für England, hatte im März auf das hohe Maß freitäglicher Fehlzeiten hingewiesen. Kinder hätten als Grund dafür angegeben, dass Papa und Mama am Freitag zu Hause sind.

Weit von Normalität entfernt

Phillipson will künstliche Intelligenz einsetzen, um bei Verlinkung mit den bestehenden Akten anderer Behörden wie etwa dem Jugendamt Trends schneller erkennen zu können. Labour will auch ein landesweites Register für Schüler, die von ihren Eltern unterrichtet werden, traut man es doch der großen Mehrheit nicht zu, ihnen wirklich etwas beizubringen. Phillipsons Ziel ist offenbar die Wiederherstellung dessen, was noch im Februar 2020 als normal galt. Doch Labour wird nicht das Geld haben, um jeden Schulschwänzer morgens abholen zu lassen. Die hohe Abwesenheit ist ein Hinweis darauf, dass auch zwei Jahre nach der Pandemie von einer Rückkehr zur Normalität keine Rede sein kann.

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