Tradition schlägt Transformation
Hannover Messe
Unternehmen in der Bringschuld
Von Karolin Rothbart
Wer als Journalist auf die Hannover Messe fährt, darf sich stets auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle einstellen. Da sind zum einen die oft riesigen, edel-futuristischen Präsentationsstände der Unternehmen, die mit ihren Robotern, Wasserstoff- oder Industrie-4.0-Lösungen eine gigantische Aufbruchstimmung verbreiten. Zum anderen gehören aber auch Auftritte der großen Verbände des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland zum Standardprogramm. Und deren Hauptgeschäft ist nun mal unter anderem das professionelle Wehklagen vor der Presse – meist über aus ihrer Sicht im internationalen Vergleich unfaire politische Rahmenbedingungen.
So beschwerten sich der Industrieverband BDI, der Maschinenbau-Verband VDMA und der Verband der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI auch in diesem Jahr in gewohnter Manier über zu viel Bürokratie in der Wirtschaft, die den Firmen „wie ein Bleigewicht um den Hals gehängt wird“ und die die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland nur noch weiter gefährdet. Wer nur mit Dokumentation beschäftigt ist, so das Argument, könne sich nicht mit Innovationen befassen.
Natürlich sind Berichtspflichten aus unternehmerischer Sicht lästig. Und natürlich dürften die Verbände auch mit anderen Kritikpunkten auf Zustimmung stoßen – etwa mit der Frage, wie notwendig Kurzarbeit dort ist, wo sich die Lieferketten längst wieder stabilisiert haben, und warum eigentlich bestimmte Treibstoffe wie Flugbenzin noch immer subventioniert werden.
Zur Wahrheit gehört aber, dass die Bringschuld für eine schnellere Transformation auch bei den Unternehmen selbst liegt. Hier gibt es noch viel zu tun. Nicht nur bleibt etwa das Potenzial einer höheren Diversität und damit eines vielfältigeren Kompetenzprofils in den Führungsetagen der Firmen komplett ungenutzt (laut der KfW lag der Chefinnen-Anteil in den mittelständischen Betrieben aus dem verarbeitenden Gewerbe hierzulande zuletzt bei 2%). Auch werden Firmenchefs im Mittelstand immer älter – und damit weniger innovationsfreudig, wie Studien gezeigt haben. Aktuell ist fast ein Drittel aller Inhaber in Deutschland 60 Jahre oder älter. Das liegt auch am nach wie vor ausgeprägten Wunsch, die Nachfolgeplanung innerhalb der Familie zu regeln.
Etwas mehr Offenheit würde hier sicher nicht schaden. Womöglich könnte sich dadurch auch die Zusammenarbeit des Mittelstands mit technologisch versierten Start-ups intensivieren. Auch hier tun sich deutsche Firmen im europäischen Vergleich noch besonders schwer.
Die Stärkung der hiesigen Wettbewerbsfähigkeit ist nicht nur eine Frage der Bürokratie, sondern auch der Veränderungsbereitschaft im Mittelstand.