LEITARTIKEL

Kopflose Ameise

Ist Jack Ma einfach nur freiwillig in Deckung gegangen, oder ist er unter sinisteren Umständen aus dem Verkehr gezogen worden? Seit Wochen rätselt Chinas Finanzgemeinde über den Verbleib des sicherlich bekanntesten und vielleicht auch genialsten...

Kopflose Ameise

Ist Jack Ma einfach nur freiwillig in Deckung gegangen, oder ist er unter sinisteren Umständen aus dem Verkehr gezogen worden? Seit Wochen rätselt Chinas Finanzgemeinde über den Verbleib des sicherlich bekanntesten und vielleicht auch genialsten Entrepreneurs in der noch jungen privaten Unternehmensgeschichte des Reichs der Mitte. Der Gründer und Taktgeber der eng miteinander verwobenen Technologieriesen Alibaba und Ant Group – Chinas dominierenden Adressen in Sachen E-Commerce und Fintech – kann oder darf sich jedenfalls nicht mehr zu Wort melden.Seit jenem unheilvollen 3. November, als Chinas Finanzregulatoren den potenziell weltgrößten Börsengang der Ant Group zwei Tage vor dem geplanten Handelsstart urplötzlich abblasen ließen, hat sich die Unternehmerlegende öffentlich nicht mehr blicken lassen. Zuvor war Ma auf einem Finanzkongress in Schanghai mit einer Brandrede zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt aufgefallen: sein Rundumschlag reichte von Unzulänglichkeiten des chinesischen Finanzsystems und der tradierten staatlichen Großbanken bis zum Vorwurf, dass Finanzregulierung mit dem Fintech-Phänomen nicht richtig umzugehen wisse und die Revolution durch App-gestütztes Mikrokreditgeschäft abzuwürgen drohe.Was an wohl jedem anderen größeren Finanzplatz als interessanter Denkanstoß und wertvoller Themenstoff für eine Expertendiskussion gewertet werden dürfte, gilt in China als ein bestrafungswürdiger Affront. Ergo hat das Imperium zurückgeschlagen und die Parteiführung interveniert, um Ma einen persönlichen und der Ant Group einen finanzregulatorischen Denkzettel der Extraklasse zu verpassen. Somit ist es wenig wahrscheinlich, dass der zuvor so öffentlichkeitsfreudige und im Stile eines Rockstars verehrte Ma sich aus einer privaten Trotzreaktion auf die erste große Niederlage heraus freiwillig zurückgezogen hat.In China gibt es die bedauerliche Tradition, private Unternehmer, die es sich auf welche Weise auch immer mit dem Regierungs- und Parteiführungsapparat verscherzt haben, ohne transparente rechtliche Schritte zunächst einmal verschwinden zu lassen und geballt gegen ihr Unternehmensimperium vorzugehen. Und siehe da, während über Ma in öffentlichen Medien kein Piep mehr zu hören ist, werden Alibaba und Ant Group zeitgleich mit einer massiven regulatorischen und wettbewerbsrechtlichen Kampagne konfrontiert.Für Alibaba bedeutet dies sicherlich ein großes Ärgernis, zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass wettbewerbsrechtliche Verstöße nicht mit den in China üblichen Bagatellstrafen, sondern mit einer an den Umsatz gekoppelten Buße belegt werden. Der hochprofitable Online-Handelsriese würde auch dies allerdings relativ gut verschmerzen können. Alibaba, aus deren Geschäftsführung sich Ma schon vor einigen Jahren zurückgezogen hatte, sollte mit einer schallenden Ohrfeige davonkommen. Bei der Ant Group, dem eigentlichen Meisterstück von Jack Ma, geht es ans Eingemachte.Ant, deren Name aus der Anlehnung an ameisenfleißige Mikrofinanzdienste herrührt, steht mit ihrem von Ma ersonnenen Turbo-Geschäftsmodell vor einem regelrechten Scherbenhaufen. Die in China allgegenwärtige Bezahl-App Alipay muss zumindest mittelbar damit rechnen, von einer forsch vorangetriebenen offiziellen chinesischen Digitalwährung marginalisiert zu werden. Das für Wachstumsfantasie und die turmhohe Bewertung von Ant im Vorfeld des Börsengangs verantwortliche Mikrokreditgeschäft wiederum droht von den neuen Regulierungsvorstößen aus den Angeln gehoben zu werden.Mittlerweile ist davon auszugehen, dass Ant eine neue Geschäftsstruktur im Stil einer Finanzholding aufgezwungen wird. Deren Einheiten für Mikrokredit-, Versicherungs- und Geldmarktfondsgeschäft wären dann, anders als bislang, vollumfänglich tradierten Risikounterlegungspflichten sowie einem Sammelsurium an Compliance-Regeln und Kundenschutzvorschriften unterworfen. Aus leichtfüßiger Kredit- und Versicherungsanbahnung via flotte Algorithmen und Big-Data-Anwendung, die eine Massengeschäftsabwicklung zu traumhaften Margen erlauben, würde ein wesentlich schwerfälligeres und weniger profitables Geschäft. Ironischerweise wird Mas Plädoyer für eine zeitgemäßere Regulierung von Fintech-Anbietern ins Gegenteil verkehrt. Das Ant-Imperium wird künftig als systemrisikorelevanter Finanzkonzern angesehen. Der muss sich ohne seinen Gründer und Lenker einen neuen Weg bahnen. ——Von Norbert HellmannChina lässt Jack Ma, Gründer der Tech-Riesen Alibaba und Ant, in der Versenkung verschwinden. Ant braucht jetzt ein völlig neues Geschäftsmodell.——