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Milliardenmarkt für Exosuits reift heran

Tragbare Roboter sollen Arbeiter unterstützen und für große Produktivitätsgewinne sorgen. Die Nachfrage von Unternehmen nach der Technologie wächst beträchtlich.

Milliardenmarkt für Exosuits reift heran

Im Blickfeld

Milliardenmarkt für Exosuits reift heran

Hochmoderne tragbare Roboter sollen Lagerarbeiter unterstützen, zunehmend bei komplexeren Aufgaben helfen und damit für große Produktivitätsgewinne sorgen. Die Nachfrage gerade nach weichen Exosuits wächst beträchtlich, und Forscher feilen fleißig an der technologischen Weiterentwicklung.

Von Alex Wehnert, New York

Ein Lagerarbeiter muss pro Tag hunderte Male die gleiche Bewegung ausführen. Herunterbücken, Kiste greifen, stemmen und hoch ins Regal oder auf den Wagen damit – oder eben im umgekehrten Ablauf. Das bedeutet auf Dauer enormen Druck auf Knie, Nacken, Schultern und Bandscheiben und droht damit langfristige Gesundheitsschäden und einen Ausfall des Arbeiters nach sich zu ziehen. Vermeiden lassen sich die Belastungen kaum. Denn auch in Branchen, die schon stark automatisiert sind, muss der Mensch bei filigraneren Aufgaben noch immer selbst Hand anlegen. Doch versuchen Wissenschaftler und Startup-Gründer, mit neuen Robotik-Anwendungen Abhilfe zu schaffen: Exoskelette und Exosuits werden zunehmend zu gefragten Hilfsmitteln am Arbeitsplatz.

Diese können Bewegungen in der Regel zwar nicht allein ausführen, dem Menschen gerade bei monotonen Abläufen aber entscheidende Unterstützung liefern. Dies birgt laut Analysten großes wirtschaftliches Potenzial. Die Research-Firma Marketsandmarkets geht gemäß einer im Mai veröffentlichten Studie davon aus, dass der Markt für Exosuits- und Skelette bis 2030 einen Umfang von 2,03 Mrd. Dollar erreichen wird. Diese Zahl nimmt sich zwar noch nicht beeindruckend aus, mit 29,4% kommt der Markt vom aktuellen Niveau aus gerechnet aber durchaus auf eine starke durchschnittliche jährliche Wachstumsrate.

Wachsender Materialbedarf

Laut den Analysten treiben Fortschritte in der Robotik, wachsende Bedenken bezüglich der Sicherheit am Arbeitsplatz in vielen Branchen und eine steigende Nachfrage im Healthcare-Sektor sowie bei militärischen Anwendungen die Adoption. Das hat auch Auswirkungen entlang der Lieferkette: Precedence Research geht davon aus, dass der Markt für Materialien, die in Exosuits verbaut werden – darunter Polymere und „smarte“ Textilien – bis 2034 auf 572,17 Mill. Dollar wachsen wird, nachdem er 2024 noch bei 190,25 Mill. Dollar lag. Die Musik spiele dabei bisher in Nordamerika, doch in Asien sei über die kommenden Jahre mit dem schnellsten Wachstum zu rechnen.

Börsen-Zeitung, sw/iGrafik.de

Unter den Unternehmen, die bei Exosuits und -Skeletten auch für komplexere Anwendungen als die Arbeit in Lagerhallen die Entwicklung vorantreiben, sind prominente Namen. Der US-Rüstungskonzern Lockheed Martin hat beispielsweise den tragbaren Roboter „Onyx“ entwickelt, der Soldaten fordernde Missionen wie den Marsch auf einen steilen Hügel erleichtern soll. Der Prothesenhersteller Ottobock, der vor dem größten deutschen IPO seit einem Jahrzehnt steht, produziert unter dem Namen „SuitX“ Exoskelette, die am Arbeitsplatz zum Einsatz kommen – zum Beispiel in der Montage beim Lkw- und Bushersteller MAN. Und die US-Firma Ekso Bionics und die japanische Cyberdyne vertreiben Exosuits für medizinische Anwendungen.

Eliteunis forschen mit Hochdruck

Auch Wissenschaftler an US-Eliteuniversitäten forschen fleißig an entsprechenden Weiterentwicklungen in der Robotik. Conor Walsh, Professor für Ingenieurwesen und angewandte Naturwissenschaften an der John A. Paulson School in Harvard, startete mit Kollegen im Jahr 2012 ein Labor, in dem Forscher aus verschiedenen Bereichen wie dem industriellen Design, der Textilwissenschaft, der Biomechanik und der Statistik zusammenarbeiten. Sie wollen „neue disruptive Robotik-Technologien entwickeln und in die Praxis überführen, um die menschliche Performance zu verbessern oder wiederherzustellen“.

Konkret arbeitet Walsh an zwei Anwendungsgebieten: Exosuits für Menschen, die mit bestehenden Beeinträchtigungen leben und deshalb Unterstützung brauchen, sowie an Anzügen für Anwender, die zum Beispiel in Lagerhäusern arbeiten, dabei hoher Belastung ausgesetzt sind und Verletzungen vorbeugen wollen. Eins der Vorzeigesysteme ist eine Gehhilfe für Menschen, die zum Beispiel einen Schlaganfall oder Wirbelverletzungen erlitten haben. Das andere ist ein sogenannter Back Exosuit, der aussieht wie ein Rucksack mit Beinschlaufen.

Große gesundheitliche Wirkung

Dieser bildet praktisch einen zweiten, parallelen Muskel zum Rückenstrecker und ist mit einem Motor ausgestattet, der über ein Kabel, das an den Beinschlaufen ansetzt, externe Drehmomente an den Menschen übertragen kann. „Es geht nicht darum, dem Anwender mit dem Exosuit übermenschliche Stärke zu verleihen, sondern darum, kumulative Effekte zu erzielen”, sagt Philipp Arens, Doktorand an der John A. Paulson School. Denn bei Lagerarbeitern könne schon eine prozentual geringe Entlastung der Muskulatur über die Zeit hinweg große gesundheitliche Wirkung entfalten.

Die Wissenschaftler sicherten sich Zuschüsse der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), die für die Förderung von Technologien zur Stärkung der nationalen Sicherheit der USA zuständig ist. Fünf Jahre lang arbeiteten sie an Geräten zur Laufunterstützung, bevor sie im Jahr 2017 auch an anderen Exosuit-Anwendungen zu arbeiten begannen. Sie profitierten bei ihrer Arbeit auch von Fördermitteln der National Institutes of Health (NIH) und der National Science Foundation (NSF).

Ignacio Galiana, damals am Wyss Institute in Harvard als Ingenieur und Programmmanager an Robotik-Entwicklungen beteiligt, führte das Team, das die ersten Rücken-Exosuits zur Unterstützung von Arbeitern mit harten körperlichen Aufgaben kreierte. Aus diesem wurde schließlich das 2020 aus dem Labor ausgegründete Startup Verve Motion. „Einige wirklich förderliche und kluge Frühphasen-Tech-Investoren haben Verve Motion unterstützt und dem Unternehmen damit sehr geholfen“, betont Walsh gegenüber der Börsen-Zeitung.

Früher Kontakt mit Investoren

In einem Umfeld, in dem die Regierung in Washington an staatlichen Fördermitteln für Bildungseinrichtungen rüttelt und insbesondere hart gegen Harvard vorgeht, rücken Kooperationen mit der Privatwirtschaft für viele Forscher stärker in den Fokus, um ihre Projekte aufrechterhalten zu können. Walshs Labor sucht solche Partnerschaften aber unabhängig von den politischen Verhältnissen. „Wir arbeiten daran, schon während der Forschung im Labor Beziehungen zu Investoren herzustellen, damit sie uns früh Feedback geben können“, führt Walsh aus. Er sieht durchaus noch Chancen durch eine wachsende Zahl verfügbarer Förderprogramme der NIH, NSF oder des amerikanischen Verteidigungsministeriums.

Die Erfahrung mit Verve Motion habe den Forschern geholfen zu verstehen, was nötig sei, um tragbare Roboter von der Laborumgebung an kommerzielle Partner zu bringen. Das Harvard Move Lab stelle daher Mitarbeiter mit „Produktentwicklungsexpertise ein, die Prototypen weiter entwickeln, als das im akademischen Umfeld üblich ist“, betont der Professor. Dies befähige die Forscher, mehr in realen Umgebungen zu experimentieren.

Produktivitätssteigerungen voraus

„Ich glaube, wir werden das erste große Wachstum im industriellen und Arbeitsplatzbereich sehen, wo die Gesundheits- und Sicherheitsvorteile für Beschäftigte und damit auch der ökonomische Nutzen für Unternehmen bereits klarer ersichtlich werden“, sagt Walsh. Denn eine geringere Zahl an Verletzungen und Dienstausfällen trügen zu einer höheren Produktivität bei.

Verve Motion habe bereits große Fortschritte dabei gemacht, die weiterentwickelte Technologie bei Unternehmen mit Milliardenumsatz aus der Logistik und der Lieferkette im Lebensmitteleinzelhandel einzusetzen. Mehrere Unternehmen hätten die Zahl ihrer Exosuit-Bestellungen zuletzt aufgestockt. Zu den Partnern der Harvard-Ausgründung zählen der Logistik-Riese UPS, der Handelskonzern Ahold Delhaize und die Supermarktkette Albertsons. In der Anwendung habe sich gezeigt, wie wichtig leichte und flexible Materialien seien. „Der große Vorteil eines weichen Exosuit gegenüber einem harten Exoskelett ist der höhere Tragekomfort”, sagt auch Doktorand Arens. Laut Walsh sollen Arbeiter praktisch vergessen, dass sie den Exosuit tragen. Die Nachfrage nach der im Vergleich zum härteren Exoskelett leichteren Variante wächst stärker, was sich laut Precedence Research im globalen Materialbedarf spiegelt.

Das Harvard-Lab erstellt zur Wirkung seiner Robotik-Anwendungen gerade Langzeitstudien mit Partnern aus der Industrie. Bei einem Projekt in Kooperation mit einem großen Logistikdienstleister laufe gerade die Auswertung. Intern haben die Wissenschaftler die Entwicklung der Muskelaktivität bei Nutzung der Exosuits unter Laborbedingungen mit EMG-Sensoren, also kleinen Elektroden, getestet. „Dabei standen wir vor der nicht ganz einfachen Frage, welche Parameter wir zur Effizienzbewertung heranziehen sollten”, sagt Arens. Bei ähnlichen Projekten, vor allem für Laufanwendungen, sei die metabolische Beanspruchung des Nutzers zur etablierten Haupt-Performance-Metrik geworden – die Anwender tragen dabei Atemmasken, die ihren CO2-Ausstoß registrieren.

Nutzer eingebunden

„Die metabolische Beanspruchung allein zeichnet jedoch oft kein vollständiges Bild“, sagt Arens. Bei Menschen, die einen Schlaganfall erlitten hätten, könnte sich die Gangeffizienz durch Kompensationsmechanismen beispielsweise wieder kurzeitig verbessern, obwohl sie zum Beispiel aufgrund von Gefühlverlust auf einer Körperseite nach wie vor Unterstützung bräuchten. Gerade deshalb sei die „Human-in-the Loop”-Optimierung, ein Verfahren, bei dem das Unterstützungsprofil eines Exosuits durch Nutzerfeedback im laufenden Prozess eingestellt wird, so wichtig. Über die Zeit hätten die Wissenschaftler bei ihren bisherigen Studien auf diesem Weg deutliche Entlastungseffekte beim Einsatz von Exosuits festgestellt.

Bei den Back Exosuits hätten sie dieses Verfahren für Parameter rund um die Kraft der Unterstützung beim Bücken und Heben von Gegenständen angewendet. „Die Kombinationen sind dabei völlig frei wählbar – das bedeutet aber eine gewisse Komplexität, weil die Kraftkurve entlang der Bewegung für kaum zwei Anwender genau gleich aussieht”, sagt Arens. Dabei komme der statistische Prozess der Bayesianischen Optimierung ins Spiel, bei der bestehende Annahmen im Modellierungsprozess mit Erfahrungswerten kombiniert werden: Der Nutzer könne nach ersten Versuchen Feedback geben, auf dessen Basis dann die angebotenen Wertekombinationen angepasst werden. „Wir haben bei unserer Forschung gelernt, wie bedeutsam die Personalisierung der Technologie für den Anwender ist“, sagt Walsh. Diese sei entscheidend, um eine reibungslosere Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu ermöglichen.

Anwender muss Programm verstehen

Der Statistiker Julian Rodemann, heute am Rational Intelligence Lab des Cispa-Helmholtz-Zentrums für Informationssicherheit in Saarbrücken tätig, hat während seines Doktorats an der Ludwig-Maximilians-Universität München zusammen mit Wissenschaftlern des Munich Center for Machine Learning an Walshs Projekt mitgearbeitet. So hat die Forschungsgruppe aus Deutschland gemeinsam mit den Harvard-Wissenschaftlern einen Mechanismus entwickelt, der dem Anwender verständlich machen soll, warum ihm der Optimierungsalgorithmus bestimmte Konfigurationen vorschlägt. „Das Programm bietet dem Nutzer der Back Exosuits zwei Parameter auf einer Skala an, einen für die Unterstützung beim Bücken und einen für das Aufrichten – allerdings ist es sehr aufwendig herauszufinden, welche Kombinationen ideal zum Anwender passen“, sagt Rodemann. Schließlich müssten Forscher und Nutzer dafür theoretisch jedes mögliche Wertepaar ausprobieren. 

„Damit der Anwender effizienter mit dem Programm interagieren kann, sollte er allerdings nachvollziehen können, wie die Bayesianische Optimierung zu ihren Vorschlägen kommt“, betont Rodemann. Denn diese könne zum Beispiel auch Werte anbieten, die weiter von der bisherigen Komfortzone des Nutzers entfernt lägen, gerade weil dieser dort noch zu wenig Erfahrung gesammelt habe. „Schlägt der Optimierungsalgorithmus dem Anwender diese Parameter ohne Erklärung vor, könnte er eher versucht sein, sie zu überspringen – und lässt damit möglicherweise eine bessere Konfiguration liegen“, führt Rodemann aus.

Arbeit für Programmierer

Das System unterliege allerdings noch gewissen Limitierungen. Denn die Idee, Bayesianische Optimierung direkt und nicht das zugrundeliegende KI-Modell zu interpretieren, sei noch recht frisch. „Wir sind in der Lage zu zeigen, zu welchem Anteil der vorgeschlagene Wert für die Unterstützung beim Bücken und Aufrichten mit dem Exosuit zu Optimierungszwecken vorgeschlagen wurde und zu welchem Anteil mit der Motivation, dunkle Ecken des Konfigurationsbereichs auszuleuchten“, sagt Rodemann. Das müsse der Nutzer aber natürlich erst einmal interpretieren. „Die Herausforderung für Programmierer besteht nun darin, diese Werte in natürliche Sprache zu übersetzen, die für jeden Anwender verständlich ist“, führt der Statistiker aus. 

Wie das Nutzer-Interface genau aussehen wird, ist noch offen. „Um herauszufinden, auf welche Art des Informationsoutputs Nutzer am besten reagierten, sind noch psychologische Studien nötig“, unterstreicht Rodemann. Allerdings soll der Erklärmechanismus in kommenden Generationen der Exosuits verfügbar sein, die Walshs Harvard-Ausgründung bereits kommerziell vertreibt.

Arens räumt dabei ein, dass die Optimierung der Gehhilfen besonders komplex ist. Denn diese müssten nicht nur für unterschiedliche Nutzer und Aufgaben, sondern auch für unterschiedliche Terrains und Gefälle jeweils neu eingestellt werden. Die Forschung der Ingenieure, Statistiker und Programmierer in Harvard und in verbündeten Programmen wie München ist dabei ein kontinuierlicher Prozess: Während die Ausgründung aus Walshs Labor die ersten Systeme schon kommerziell vertreibt, fließt neue Forschung in nachfolgende Generationen der Exosuits ein. Die Robotik-Tools sollen so für zunehmend komplexere praktische Anwendungen einsetzbar sein – und dabei helfen, das Wachstum des potenziellen Milliardenmarkts zu beschleunigen.