Notiert in Moskau

Moskau bleibt – wohl oder übel – europäisch

Die Abwendung von Europa seit dem Ukraine-Krieg hat ihre Grenzen. Und diese scheinen allmählich erreicht. Davon zeugt auch ein neues Gesetz, dessen Sinn selbst die russischen Entscheidungsträger anzweifeln.

Moskau bleibt – wohl oder übel – europäisch

Notiert in Moskau

Moskau bleibt europäisch

Von Eduard Steiner, Moskau

Alexej Leonow, Bauernkind aus Westsibirien und der erste Kosmonaut, der (1965) sein Raumschiff verließ und nur mit einer Leine gesichert zwölf Minuten im Weltraum schwebte, erzählte mir in diversen Gesprächen von den bemerkenswertesten Beobachtungen im All. Eine davon sei die absolute Stille gewesen. Er habe ausschließlich sein eigenes Atmen vernommen, dessen Aufnahme später übrigens vom Regisseur Stanley Kubrick im Film „2001: A Space Odyssey“ verwendet wurde. Noch kurioser aber, dass jeder Astronaut nach dem ersten Raumflug wie von einem Aha-Erlebnis berichtet: „Die Erde ist tatsächlich rund“. 

Just daran musste ich dieser Tage denken, als mir ein Bekannter aus Russland erzählte, was er nach seiner jüngsten Rückkehr aus Israel in Moskau empfand: „Russlands Hauptstadt ist tatsächlich europäisch“. Naja, hätte man ja nach all den Entwicklungen der vergangenen dreieinhalb Jahre auch vergessen können. Bekanntlich wurde ein Großteil des starken europäischen Anteils am russischen Außenhandelsvolumen im Handumdrehen von den Chinesen übernommen. Am meisten sichtbar auf dem Automarkt, auf dem China seinen Anteil von weniger als 10% auf über 60% hochschraubte.

Gewiss, zuletzt hat sich das Wachstumstempo verlangsamt, eine gewisse Sättigung scheint erreicht. Stellenweise warten die Konsumenten bereits auf die Rückkehr der Europäer, stellenweise fürchten russische Unternehmen genau das, weshalb sie bei Kremlchef Wladimir Putin intervenieren und um Hürden gegen den Wiedereinstieg bitten.

Unabhängig davon aber bleibt die Tatsache bestehen, dass Russland nicht nur immer schon ein zwischen Asien und Europa hin- und hergerissenes Land war, sondern dass die Ausrichtung an Europa seit dem Ende der Sowjetunion so stark und fundamental vollzogen wurde, dass diese Prägung eigentlich nicht mehr abzuschütteln ist. Daran ändert auch nichts, dass das Parlament soeben einen Gesetzesentwurf abgesegnet hat, demzufolge die Bezeichnung neuer Wohnbaukomplexe auf Russisch erfolgen muss und die Aufschriften in Geschäften für die Konsumenten ebenso. Das Gesetz, bekannt als „Gesetz zur Beschränkung der Anglizismen“ wurde von 414 Abgeordneten gebilligt, und selbst der einzige Parlamentarier, der dagegen stimmte, hatte – wie sich später herausstellte – versehentlich den falschen Knopf betätigt.

Unterstützt wurde das Gesetz vom renommierten Regisseur Nikita Michalkow, der darauf hinwies, dass man Moskau nur noch schwer von einer ausländischen Stadt unterscheiden könne, weil auf 90% der Aushängeschilder lateinische Buchstaben und englische Wörter zu finden seien. Selbst die staatlichen TV-Kanäle seien voll von englischen Ausdrücken, betonte eine Senatorin und fragte daher, welchen Sinn ein solches Gesetz habe, wenn die Leute so unverantwortlich mit der Sprache umgingen. Gute Frage. Strafen für die Überschreitung sind nicht vorgesehen.

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