Nach sechs Wochen Shutdown ist die Ziellinie in Sicht
Nach sechs Wochen Shutdown ist die Ziellinie in Sicht
US-Shutdown: Ziellinie endlich in Sicht?
Der Streit um einen Übergangshaushalt könnte in wenigen Tagen beendet sein – Die Folgen des längsten Verwaltungsstillstands in der Geschichte wiegen für die Betroffenen und für die Gesamtwirtschaft aber schwer
Von Peter De Thier, Washington
Der längste Verwaltungsstillstand in der US-Geschichte könnte in wenigen Tagen beendet sein. In der Nacht zum Montag stimmten moderate Demokraten einem Gesetzesentwurf zu, der die Finanzierung des staatlichen Verwaltungsapparates bis Januar sicherstellen würde. Auch würde der Deal die Entlassung von Bundesbediensteten aufheben und staatliche Lebensmittelhilfe bis September 2026 verlängern.
Die wichtigste Forderung der Demokraten, nämlich die Verlängerung der staatlichen Zuschüsse zu den Beiträgen für die Krankenversicherung, blieb aber auf der Strecke. Darüber soll im Dezember eine getrennte Senatsabstimmung stattfinden. Doch es kann auch anders kommen. Liberale Demokraten wie Senatorin Elizabeth Warren halten die Zurückstellung für eine „folgenschwere Kapitulation gegenüber US-Präsident Donald Trump“ und haben Widerstand angekündigt. Die auslaufenden Zuschüsse waren einst ein zentraler Bestandteil des Affordable Care Act (ACA), auch als Obamacare bekannt.
Bundesbedienstete in Finanznot
Unterdessen zieht der Shutdown nach sechs Wochen weite Kreise. Viele Bundesbedienstete sind nämlich in akute Finanznot geraten. Auch beginnen sich die gesamtwirtschaftlichen Folgen bemerkbar zu machen. Hinzu kommt der immense Vertrauensverlust in gewählte und weiter bezahlte Volksvertreter. Seit fast zwei Monaten scheinen sie außerstande, sich auf eine neunzigtägige Zwischenfinanzierung zu verständigen. Folglich warnen viele Experten, dass der entstandene Schaden weit über die quantifizierbaren Wirtschaftsdaten hinausgehen wird.
Die Debatte um staatliche Hilfen zur Finanzierung eskalierender Gesundheitskosten ist nicht neu. So war vor 15 Jahren die Verabschiedung von „Obamacare“, der Affordable Care Act (ACA), ein Meilenstein in der Amtszeit des 44. Präsidenten. Das ACA war aber zugleich so umstritten wie kein anderes Gesetzeswerk seit der Jahrtausendwende. 2013 führte das Tauziehen um eine Krankenversicherungspflicht zu einem 17 Tage langen Shutdown.
Dauerstreit um Obamacare
Schon in der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trumps unternahmen Republikaner einen Anlauf, um das ACA zu kippen. Senator John McCain erschien zu nächtlicher Stunde im Plenarsaal und gab ein „thumbs down“ Signal. Mit dem entscheidenden Votum gegen eine Aufhebung des Gesetzes fiel der Einzelkämpfer McCain seinen Parteifreunden in den Rücken. Und er zog sich Trumps Zorn zu, der McCain bis zu dessen Tod ein Jahr danach die Stimmabgabe nicht verzeihen wollte.
Auch diesmal war es der Dauerstreit um Obamacare, der den staatlichen Verwaltungsapparat praktisch eingefroren hat. Ein wichtiger Bestandteil des ACA sind nämlich für Millionen von ärmeren Haushalten Zuschüsse zu den explodierenden Prämien. Deren Höhe passen die Versicherungsunternehmen immer am 1. November an. Für viele Haushalte haben sich die Prämien vorletzte Woche mehr als verdoppelt. Damit wurde für die meisten die Krankenversorgung unerschwinglich.
Prämien lassen Staat zur Ader
Nach Schätzungen des Congressional Budget Office (CBO) würde das Auslaufen der Subventionen bedeuten, dass bis 2034 wohl zusätzlich 4,8 Millionen Amerikaner nicht mehr versichert sein würden. Dem stehen allerdings Kosten für den Fiskus in Höhe von 350 Mrd. Dollar gegenüber. An genau dieser Rechtsgüterabwägung hat sich der Streit entzündet, der zum Shutdown geführt hat: Was wiegt schwerer: Die Garantie verlässlicher Krankenversorgung für alle Amerikaner? Oder Einsparungen in dreistelliger Milliardenhöhe, auf denen fiskalisch konservative Republikaner beharren?
Zwar ist es das längerfristige Ziel des Kongresses, einen Haushalt für das gesamte Fiskaljahr 2026 zu verabschieden. Das Budgetjahr hat bereits am 1. Oktober begonnen. Um den Verwaltungsapparat wieder in Gang zu setzen, würde aber auch ein Übergangshaushalt genügen. Der über Nacht gezimmerte Deal würde die Finanzierung für 90 Tage sicherstellen. Hält der Streit um die subventionierten Prämien aber immer noch an, droht Anfang 2026 der nächste Shutdown.
Fehlende Barreserven
Angenommen, es kommt in den kommenden Tagen zu einem neuen Gesetz, werden sofort die Diskussionen über den entstandenen Schaden beginnen. Aus mikroökonomischer Sicht macht sich dieser bei jedem der 900.000 Bundesbediensteten bemerkbar, von denen die meisten sechs Wochen lang ohne Bezahlung auskommen mussten. In den USA lag die Sparquote im August nur bei 4,6%. Am verfügbaren Einkommen gemessen ist das ist etwa ein Drittel des Geldes, das europäische Haushalte auf die hohe Kante legen.
Folglich fehlt es selbst gut verdienenden Beamten an den notwendigen Reserven, um in finanziell angespannten Zeiten ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Die Websites vieler Arbeitsämter, die mit Anträgen auf Arbeitslosenhilfe überschwemmt werden, sind überlastet. Zudem nehmen viele Darlehen auf oder belasten ihre Kreditkarten. Andere gehen Zweitjobs nach und arbeiten als Uber Fahrer, Kellner oder Kassierer.
Einbruch beim Privatkonsum
Nach Schätzungen der wirtschaftlichen Prognosefirma Oxford Economics betrug der kumulative Einkommensverlust der Staatsdiener Ende Oktober bereits 0,4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Folgen für den Privatkonsum, der 69% des BIP ausmacht, könnten immens sein. In den kommenden Wochen läuft nämlich das Weihnachtsgeschäft an. Sind fast 1 Mill. Bundesbedienstete außerstande, daran teilzunehmen, könnte dies einen Einbruch bei den Konsumausgaben zur Folge haben.
Betroffen sind aber auch Unternehmen. So schätzt Oxford Economics, dass jeden Tag Staatsaufträge im Wert von 800 Mill. Dollar dem Verwaltungsstillstand zum Opfer fallen. Diese betreffen insbesondere die Rüstungs- und Raumfahrtindustrie. Auch spüren Dienstleister im Bereich der nationalen Sicherheit und des Gesundheitswesens die Folgen. Sollte die Regierungsgeschäfte theoretisch Ende November noch brach liegen, würden dem Institut zufolge die Geschäfte, die Unternehmen mit dem Fiskus abschließen, um täglich 1,3 Mrd. Dollar schrumpfen.
Makroökonomische Folgen
Unterdessen gelangen Prognosen zu dem Schluss, dass der Stillstand mit einzigartiger Härte die Gesamtwirtschaft treffen wird. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Shutdown aus makroökonomischer Sicht der folgenschwerste in der Geschichte sein wird“, sagt Alec Phillips, Chief Political Economist bei Goldman Sachs. Er rechnet damit, dass die Wachstumsrate als Folge des brachliegenden Verwaltungsapparats im Schlussquartal um 1,15% niedriger ausfallen wird.
Zudem meint David Kelly, Chief Global Strategist bei JP Morgan Asset Management, dass der Shutdown unnötiges Öl ins Feuer gießt. „Auch ohnedies hat die Wirtschaft an Schwung verloren“, sagt der Stratege. „Durch den Stillstand ist nun sichergestellt, dass alles noch schlimmer wird“. Ein etwas positiveres Bild zeichnet das Congressional Budget Office (CBO). Laut CBO wird das BIP-Wachstum im vierten Quartal um 1 bis 2 Prozentpunkte geringer ausfallen. Entscheidend sei nun, wie lange der Shutdown noch andauert.
Ein schwacher Trost, insbesondere für die betroffenen Beamten: Wahrscheinlich ist nach Darstellung des CBO, dass Verbraucher und Unternehmer im ersten Quartal des neuen Jahres die Wachstumseinbuße wieder ausgleichen werden. Diese optimistische Prognose gab das Institut allerdings ab, bevor Trump letzte Woche drohte, Bundesbediensteten Lohnnachzahlungen vorzuenthalten. Er berief sich dabei auf ein Gesetz aus dem Jahr 2019. Dieses räumt dem Präsidenten breiten Ermessensspielraum ein, wenn es darum geht, nach einem Shutdown über Nachzahlungen zu entscheiden.
Politisches Vertrauen verloren
Unterdessen hinterlässt der Verwaltungsstillstand nach sechs Wochen tiefe Spuren. Denn unmittelbar betroffen sind nicht nur die Bundesbediensteten. Schließlich sind am 1. November die Gelder für das staatliche Lebensmittelhilfeprogramm "Supplemental Nutrition Assistance Program" (SNAP) ausgelaufen. Da Trump sich weigert, einen Notfonds anzuzapfen, um SNAP zu finanzieren, müssen 42 Millionen ärmere Amerikaner seit Monatsbeginn hungern. Sie haben nun aufgrund der Einigung im Senat Hoffnungen, ihre Kühlschränke bald wieder füllen zu können.
Auch spüren Verbraucher die Folgen in Form von endlos langen Schlangen an Flughäfen und massiven Verspätungen. Fluglotsen zählen nämlich zum sogenannten „essentiellen Personal“, das zur Arbeit erscheinen muss, aber nicht bezahlt wird. Folglich melden sich immer mehr krank und bleiben zu Hause. Dadurch musste das Verkehrsministerium am Wochenende die Streichung von 10% aller Flüge anordnen.
Die allgemeine Frustration schlägt sich zwischenzeitlich auch in Indizes wie dem Bericht des Conference Board zum Verbrauchervertrauen nieder. Dessen Zukunftskomponente deutet auf eine Rezession hin. In der Befragung geben immer mehr US-Bürger zu Protokoll, dass der Shutdown ihr Vertrauen in Politik und die Wirtschaft erschüttert hat.
Festgefahrene Fronten
Welche Partei leidet unter dem Shutdown aber nun mehr, welche weniger, und was haben Politiker dagegen unternommen? Lange Zeit waren die Fronten scheinbar hoffnungslos festgefahren. Dabei ging es vorrangig um Wege, um die Prämienzuschüsse beizubehalten, ohne den Staatshaushalt überzustrapazieren. Die ersten republikanischen Angebote haben Demokraten zwar abgelehnt. Doch immerhin sind Senatoren nach Washington zurückgekehrt, um an Gesprächen teilzunehmen. Angesichts der Vereinbarung in der Nacht zum Montag könnten die 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses bald folgen.
Nukleare Option
Bei dem Präsidenten war der Zorn so groß, dass er die sogenannte „nukleare Option“ erwogen hat, um den Shutdown zu beenden. Die Fähigkeit der Demokraten, als Minderheitspartei die republikanischen Übergangshaushalte zu blockieren, hängt nämlich mit dem sogenannten „Filibuster“ zusammen. Die Regel schreibt vor, dass Mitglieder der Opposition mit einer endlosen Plenumsdebatte die Verabschiedung eines Gesetzes verhindern können. Um den Filibuster zu überwinden, sind 60 Stimmen im Senat notwendig. Dazu müssten aber sieben Demokraten das Lager wechseln. Das aber lehnten sie ab, bis in der Nacht zum Montag acht Oppositionsmitglieder zustimmten.
„Brechen“ können Republikaner den Filibuster aber auch, indem der Senat eine neue Auslegung seiner eigenen Regeln beschließt. Dafür genügt eine einfache Mehrheit von 51 Stimmen. Doch wie mehrere Präzedenzfälle zeigen, birgt das politische Gefahren. 2013 wandten unter Präsident Barack Obama Demokraten die nukleare Option an, um Senatsbestätigungen für Regierungsmitglieder unter Präsident Barack Obama durchzusetzen.
Das wiederum bereitete den Weg für Trump. Vier Jahre später konnte er Kabinettsmitglieder durchbekommen, die offenkundig unqualifiziert waren. Dasselbe galt vier Jahre später für drei erzkonservative, ebenfalls umstrittene Supreme Court Richtern. Sie haben bereits mehrere fundamentale, verfassungsrelevante Urteile gefällt.
Zwischenwahlen vor Augen
Schwierig gestaltet sich eine Lösung, weil der demokratische Durchmarsch bei den jüngsten Wahlen die Opposition beflügelt hat. Daher hatte es den Anschein, als würden sie von ihren Forderungen keine Abstriche machen. Umso tiefer ist nun der Spalt innerhalb der Opposition, weil es doch einige Abweichler gibt. Der demokratische Fraktionschef Charles Schumer nannte "die Gesundheitskrise so extrem, dass ich die Einigung nicht unterstützen kann“. Viele merken an, dass ein weiterer Aufschub die wirtschaftlichen Folgen nur verschärft.
