Notiert inBrüssel

Reizvoller Rollentausch im Europaparlament

Für einen Tag übernehmen Unternehmer aus ganz Europa den Betrieb im EU-Parlament. Nicht nur der Andrang zeigt, dass dieses Format nie wertvoller war.

Reizvoller Rollentausch im Europaparlament

Notiert in Brüssel

Reizvoller Rollentausch

Von Stefan Reccius

Bevor es in ungewohnter Umgebung zur Sache geht, wird es erst einmal pathetisch. "Ladies and Gentlemen", sagt Moderator Ben Butters, "bitte erheben Sie sich für die Europahymne". Aus den Boxen ertönt Schillers Ode an die Freude, etwa 700 Frauen und Männer erheben sich im Plenarsaal des Europäischen Parlaments. Als die Musik verhallt, applaudieren sie kurz.

Das Ungewöhnliche: Es sind nicht gewählte Abgeordnete, die an diesem Tag das Hohe Haus der europäischen Demokratie bevölkern. Es sind Unternehmenslenkerinnen und Firmenchefs in Businesskostüm oder Anzug und Krawatte. Sie vertreten nicht die Interessen des Volkes, sondern in erster Linie ihre eigenen und die ihrer Beschäftigten und Geschäftspartner.

Gerade das macht den Rollentausch so reizvoll. Geschäftsleute aus ganz Europa (nicht bloß den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union) lassen Spitzenpolitiker und Beamte wissen, was ihnen auf dem Herzen liegt: Das ist der Sinn des "Europaparlaments der Unternehmer". Erstmals seit 2018 hatte Eurochambres, der Dachverband von Europas Industrie- und Handelskammern, wieder nach Brüssel geladen.

Nie war dieses Format so wertvoll wie in diesen turbulenten Zeiten. Dass die pandemiebedingt verschobene sechste Auflage nach fünf Jahren Pause keinen Tag zu früh kommt, verrät schon der Blick ins Plenum: Nur vereinzelt bleiben Plätze frei. Selbst im regulären Politikbetrieb ist ein derartiger Andrang selten.

"Zeitalter der Bürokratie"

Gekonnt setzt Vladimír Dlouhý den Ton für die Debatte. Der Präsident von Eurochambres trägt seine Eröffnungsrede im Stile eines Staatsmannes vor, was kein Wunder ist: Dlouhý diente in den Neunzigern in seiner Heimat Tschechien als Minister für Wirtschaft, Industrie und Handel. Immer wieder wendet er sich Valdis Dombrovskis zu, um den EU-Kommissionsvize direkt anzusprechen. Seine Devise: Aus dem Überlebenskampf zurück in die Erfolgsspur.

Dlouhý setzt sich nach Kräften für die Belange der vielen Mittelständler im Plenum ein. Sie fühlten sich zunehmend überfordert. Er mahnt die EU-Kommission eindringlich, eine "Balance" bei Prestigevorhaben wie dem Klimaschutz- und Industrieprojekt Green Deal zu finden. Eine solche Balance beherzigt auch Dlouhý in seiner Rede: Er spart nicht mit Kritik am "Zeitalter überbordender Bürokratie". Er deutet aber auch Verständnis an, mit welch schwieriger Welt- und Wirtschaftslage die EU-Kommission konfrontiert ist.

Dann sind die versammelten Unternehmer an der Reihe. Dutzende ergreifen zu ihren Herzensanliegen Wettbewerbsfähigkeit, Fachkräftemangel und Handelsbeziehungen das Wort. Und wie es sich für Parlamentarier gehört, schreiten sie zwischendurch immer wieder zur Abstimmung. Das Meinungsbild unter den Unternehmern lässt kaum Zweifel, dass die Arbeit für die nächste EU-Kommission kaum weniger wird:

Sollte sich die EU auf Investitionen in Energieinfrastruktur und Verbundnetze fokussieren, um den Energiebinnenmarkt schneller zu entwickeln? 98% drücken an ihren Abstimmungspulten den grünen Ja-Knopf.

Fällt es ihnen heute schwerer als vor fünf Jahren, geeignete Fachkräfte zu finden? 88% Ja.

Erschwert der Green Deal den Wettbewerb auf dem Weltmarkt? 83% Ja.

Applaus für China-Zölle

Schließlich nimmt Bernd Lange vorn auf dem Podium Platz, der Vorsitzende des Handelsausschusses im Parlament. Für den SPD-Politiker muss es sich anfühlen wie ein Auswärtsspiel im eigenen Stadion, schließlich sitzt er sonst selbst im Plenum. Lange muss sich Vorwürfe, Kritik und Ratschläge anhören, eine Jungunternehmerin aus Schweinfurt wünscht sich mehr Vertrauen. Aber hier und da bekommt Lange auch Lob zu hören. Als jemand Strafzölle der EU auf Dumpingimporte aus China lobt, applaudieren sogar wieder einige.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.