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Rom baut bei Pirelli Schutzschild gegen Chinesen auf

Die italienische Regierung hat die Befugnisse des chinesischen Pirelli-Großaktionärs Sinochem, der 37% der Anteile hält, durch die so genannte Golden-Power-Regelung stark beschnitten. Auch sonst interveniert Rom zunehmend in der Wirtschaft.

Rom baut bei Pirelli Schutzschild gegen Chinesen auf

Mit seiner leicht wirkenden Konstruktion ist der „Pirellone“ (der große Pirelli) in Mailand längst zu einer Ikone der Architekturgeschichte geworden. Der Ende der fünfziger Jahre von den Architekten Gio Ponti und Pier Luigi Nervi errichtete 127 Meter hohe Wolkenkratzer beherbergte einst die Zentrale des Reifenherstellers Pirelli. Tempi passati! Pirelli ist schon vor Jahrzehnten ausgezogen und nach vielen Häutungen und Krisen deutlich geschrumpft. Doch mit ihren Hochleistungsreifen ist Pirelli, die 2022 auf einen Umsatz von 6,6 Mrd. Euro und einen Nettogewinn von 436 Mill. Euro kam und an der Börse 4,4 Mrd. Euro wert ist, noch immer einer der letzten Großkonzerne Italiens von Weltruf.

Golden-Power-Regelung

Der Reifenhersteller steht seit vielen Jahren unter ausländischer Kontrolle. Doch Mitte Juni schob die Regierung dem chinesischen Großaktionär Sinochem/Chemchina, der 37% der Anteile hält, einen Riegel vor. Über eine sogenannte Golden-Power-Regelung machte Rom von der Möglichkeit Gebrauch, die Befugnisse des Aktionärs massiv einzuschränken.

Die Chinesen hatten 2015 für
7 Mrd. Euro die Mehrheit übernommen, als es Pirelli schlecht ging. Nach der gescheiterten Übernahme der deutschen Continental Anfang der 1990er Jahre stand der Konzern vor der Pleite. Der damalige CEO Leopoldo Pirelli musste gehen. Sein Schwiegersohn Marco Tronchetti Provera brachte das Unternehmen auf Kurs, verkaufte die Glasfasersparte zu einem attraktiven Preis und vereinfachte die verschachtelte Konzernstruktur. Doch der Einstieg bei Telecom Italia (TIM) war ein fataler Fehlschlag. Pirelli stieg mit hohen Verlusten aus. Tronchetti Provera trennte sich vom Kabelgeschäft (heute Prysmian) und wurde vom Jäger zum Gejagten. Die russische Rosneft kaufte Anteile. Dann erwarb 2015 Sinochem/Chemchina die Mehrheit und brachte Pirelli 2017 an die Börse. Der Anteil wurde auf 37% reduziert. Pirelli verkaufte das Geschäft mit Industriereifen und konzentrierte sich auf Hochleistungsreifen für Autos, Fahrräder und die Formel 1.

Tronchetti Provera steht mit 75 immer noch an der Spitze. Mit dem chinesischen Aktionär schien der „Dottore“ eine ideale Lösung gefunden zu haben. In einem Statut hatte er sich sicherstellen lassen, dass der Firmensitz sowie ein Großteil von Forschung und Entwicklung in Italien verbleiben. Und dass das Management italienisch bleibt. Geändert werden konnten diese Regeln nur mit einer Mehrheit von 90% des Kapitals. Da die von ihm geleitete Holding Camfin 14% der Anteile hält, hatte er ein Vetorecht. Doch das Statut wird alle drei Jahre neu verhandelt.

Im Mai 2023 änderten sich die Regeln. Die Chinesen ließen sich mehr Einfluss, die letzte Entscheidung bei der Besetzung der Führung und eine Reduzierung der Vertreter der Holding Camfin im Verwaltungsrat festschreiben. Insider sagen, der Großaktionär habe immer mehr Einfluss verlangt und seine Instruktionen direkt aus Peking erhalten.

Da schritt die italienische Regierung ein. Mit einer seit 2012 bestehenden Regelung, die 2019 erheblich ausgeweitet wurde, kann sie bestimmte Transaktionen in Wirtschaftssektoren, die „im nationalen Interesse“ liegen, blockieren oder dafür Bedingungen festlegen.  Das umfasst inzwischen fast alle Branchen. 1.300 Operationen wurden seit 2012 geprüft, sieben verboten, 35 mit Bedingungen genehmigt. Die in neuen Reifen eingebauten Sensoren gäben sicherheitsrelevante Informationen an die Bordcomputer und Smartphones weiter und erlaubten etwa eine Geolokalisation, so Rom. Das sei für Italiens Sicherheit relevant.

Sinochem soll keinen Zugang mehr zu sensiblen Informationen erhalten. Die Spitzenpositionen des Unternehmens werden weiter von Tronchetti Proveras Holding Camfin besetzt. Für strategische Entscheidungen braucht es eine Mehrheit von vier Fünfteln im Verwaltungsrat. Bei der außerordentlichen Hauptversammlung am 31. Juli sollen mindestens vier der zwölf Posten im Aufsichtsgremium von der italienischen Seite bestimmt werden, so dass diese ein Vetorecht hat. Ohne das Eingreifen Roms hätten Pirelli wegen der Rolle des chinesischen Staats im Unternehmen Sanktionen etwa in den USA gedroht.

China reagierte nur inoffiziell. Die „Global Times“, Zeitung der Kommunistischen Partei, schrieb: „Der italienische Schritt stellt zweifellos eine unangemessene Behinderung eines chinesischen Unternehmens dar.“ He Jun, Direktor für makroökonomische Forschung beim chinesischen Thinktank Anbound, sagte dem „Corriere della Sera“, „der Vorfall mit Pirelli könnte Peking dazu veranlassen, seine Investitionen zu überprüfen.“

Ausgerechnet jetzt machte Giorgio Luca Bruno (63), als stellvertretender CEO seit zwei Jahren Kronprinz Tronchetti Proveras, einen Rückzieher. Einen Bezug zu der aktuellen Diskussion gibt es angeblich nicht. Nun soll der 50-jährige Andrea Casaluci, seit 2018 General Manager Operations bei Pirelli und seit 2002 im Unternehmen, Tronchetti Provera nach der Hauptversammlung folgen. Letzterer bleibt als Executive Vicepresident für den Strategieplan, die Beziehungen zum Aktionär, die Medien und die institutionellen Anteilseigner im Unternehmen zuständig. Und er behält das letzte Wort bei der Bestellung des CEO.

Italienische Lösung?

Im Blickfeld

Schutzschild gegen chinesischen Einfluss

Rom interveniert bei Pirelli und beschneidet Befugnisse des Großaktionärs – Staat wird immer präsenter in der Wirtschaft

Von Gerhard Bläske, Mailand
Von Gerhard Bläske, Mailand

Für Rom ist die Intervention zweischneidig, denn die Regierung will ja Investoren anlocken. Italien hält bei vielen Unternehmen wie dem Mineralölkonzern Eni, dem Versorger Enel, bei Telecom Italia, dem Rüstungskonzern Leonardo, der Werftengruppe Fincantieri, der Bank Monte dei Paschi di Siena (MPS) oder der Post direkt oder indirekt über die Staatsbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) Anteile oder die Mehrheit.

Die Regierung interveniert immer stärker in der Wirtschaft und hat gerade fast sämtliche Spitzenposten der Unternehmen mit staatlicher Beteiligung mit Getreuen besetzt. Derzeit wird die voll-
ständige Übernahme des früheren Stahlwerks von Ilva, an dem auch ArcelorMittal beteiligt ist, und der italienischen Teile des Haushaltsgeräteproduzenten Electrolux geprüft. Pirelli selbst kommentiert die Situation nicht. Der Aktienkurs ist auf
Talfahrt. Theoretisch könnte Sinochem gerichtlich gegen die Entscheidung Roms vorgehen. Die Erfolgschancen sind gering. Manche in Italien träumen von einer
italienischen Lösung. Der Bremsenhersteller Brembo ist mit 6% an Pirelli
beteiligt.

Der 127 Meter hohe „Pirellone“ war einst das höchste Gebäude Mailands und gehört heute zu den Wahrzeichen der Stadt. Der Reifenhersteller Pirelli ist schon in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus dem einstigen Firmensitz ausgezogen (Aufnahme von 1961).