Software essen Dividende auf
Das autonome Fahrzeug ist da. Allerdings mit anderen Produkteigenschaften, als sich Investoren und Verbraucher das erhofft hatten. Denn die selbst gesteuerten Dieselfahrzeuge von Volkswagen erkennen nicht etwa die alltäglichen Gefahren für Teilnehmer am Straßenverkehr, um ihnen selbständig ausweichen zu können. Sie bemerken vor allem Situationen, die für ihren Hersteller peinliche Folgen haben könnten, weil die Fahrzeuge nach Lage der Dinge kaum einen der Emissionsstandards einhalten, denen sie laut Prospekt genügen. Stellt man eines dieser autonomen Automobile also auf den Prüfstand und lässt das Steuer einrasten, erkennt der Wagen das und weiß, dass jetzt Vorsicht geboten ist. Die Steuerungssoftware unternimmt dann alles Nötige, um die Emissionswerte auf das richtige Maß zu bringen.Vor die Wahl gestellt, Dieselfahrzeuge mit den Verbraucher ansprechender Motorleistung oder den Regeln entsprechenden Emissionswerten auf den US-Markt zu bringen, hat die Konzernzentrale in Wolfsburg offenbar früh entschieden, dem Fahrzeug die Möglichkeit einzuräumen, das situationsabhängig selbst zu entscheiden. Naiv war allenfalls, dass man den Autos nicht auch die Fähigkeit mit auf den Weg gegeben hat, Prüfsituationen außerhalb der Werkstatt zu erkennen. Würden die VW-Dieselfahrzeuge auch dann in den sparsameren Modus wechseln, wenn sich ihnen etwa ein Mitarbeiter des gemeinnützigen International Council on Clean Transportation (ICCT) oder gar der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency (EPA) nähert, der Konzern hätte sich, den Beschäftigten, Kunden und Aktionären viel Ärger ersparen können.Wie man es in der Zukunft besser machen könnte, war noch in der vergangenen Woche an der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt zu bestaunen, wo das vernetzte Fahrzeug im Mittelpunkt stand. Denn ist ein VW-Diesel erst einmal dauerhaft über das Internet mit Servern auf der ganzen Welt verbunden, sollte mit ein bisschen gutem Willen auch der Abgleich der eigenen GPS-Daten etwa mit den Bewegungsdaten von Handys in Echtzeit zu bewerkstelligen sein, die den Mitarbeitern der ICCT und EPA zugeordnet werden können. Aber welcher Konzern von Rang und Namen, der etwas auf sein Produkt hält, würde sich schon auf so eine perfide Trickserei einlassen? Vor zwei Wochen hätte man die Frage noch mit deutlich festerer Stimme beantwortet.Die Software, die Volkswagen zur Anwendung gebracht hat, um den Zielkonflikt zwischen Absatzchancen und Emissionsgrenzen zu lösen, weist aber über den Automobilhersteller und seinen Abgas-Skandal hinaus. Denn VWs Dieselgate macht nicht nur deutlich, dass “smarte” Automobile weder Verbraucher noch Investoren davor schützen, am Ende die Dummen zu sein. Der Skandal ruft auch ins Bewusstsein, dass in der schönen neuen Welt der vernetzten Wirtschaft, mit smarten Fabriken und Maschinen, neben Effizienzpotenzialen auch die Möglichkeiten für Manipulationen sprießen. Nicht nur für Hacker und Bösewichte, auch für Insider wie bei VW.Die Fabrik der Zukunft und ganze industrielle Wertschöpfungsketten werden zur Black Box für alle, die keinen Zugriff auf den Quellcode der Software haben, die mehr und mehr das Steuer übernimmt. Die Sentenz “Software eats up the world”, wie sie Netscape-Gründer und Technologie-Investor Marc Andreessen mit Blick auf die fantastischen Chancen von Softwarefirmen einmal formuliert hat, bekommt da einen ganz neuen Klang. Investoren von VW frisst die manipulative Steuerungssoftware unter der Haube von bis zu 11 Millionen Dieselfahrzeugen, in der sich halsbrecherische Entscheidungen des Managements manifestieren, jetzt erst einmal die Dividende weg.Der Quellcode wird zum Investorenrisiko. Das ist nicht neu, denn Software gewinnt nicht erst an Bedeutung, seit findige Marketingstrategen die Zukunft auf den Begriff “Industrie 4.0” gebracht haben. Doch die Beobachtung von Andreessen lässt sich heute an jeder Ecke nachvollziehen: Software ist nicht nur bei VW längst integraler Bestandteil des Produkts. Sie steuert nicht nur Fabriken, sondern übernimmt entlang des gesamten Produktlebenszyklus die Kontrolle. Wo das den Konzernen neue Möglichkeiten gibt, den einen oder anderen Zielkonflikt im eigenen Sinne zu lösen, werden sie es tun. Investoren, die wohl auch in Zukunft keine Einsicht in den Quellcode haben werden, können immerhin darauf vertrauen, dass dabei kaum ein Unternehmen im Portfolio so dämlich wie VW zu Werke gehen wird.——–Von Stefan ParaviciniSteuerungssoftware übernimmt nicht nur in Dieselmotoren das Kommando. Risiken, die im Quellcode schlummern, gewinnen über VW hinaus an Bedeutung.——-