LeitartikelEuropawahl

Trügerische Treueschwüre für Ursula von der Leyen

Die Spekulationen über eine zweite Amtszeit für Ursula von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission nehmen zu. Worauf es ankommt.

Trügerische Treueschwüre für Ursula von der Leyen

Europawahl

Trügerische Treueschwüre

Die Unionsspitzen machen sich für eine zweite Amtszeit Ursula von der Leyens stark. Alles klar also für 2024? Nicht so schnell.

Von Stefan Reccius

Strebt Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit an der Spitze der EU-Kommission an? Noch hat sich die Deutsche nicht offiziell erklärt, sondern es bei Andeutungen belassen. Das Spielchen dürfte noch eine Weile so weitergehen. Denn nichts könnte von der Leyen weniger gebrauchen, als ein Jahr lang de facto Wahlkampf zu führen. So lange sind die Europawahlen noch hin – und doch führt in Brüssel im Allgemeinen und in der Europäischen Volkspartei (EVP) im Besonderen schon jetzt kaum ein Gespräch an dieser Frage vorbei.

Für die Parteivorsitzenden der Unions-Schwesterparteien, die Teil der EVP-Parteienfamilie sind, ist die Sache klar: Von der Leyen soll für fünf weitere Jahre Präsidentin der EU-Kommission bleiben. Das haben sowohl CDU-Chef Friedrich Merz als auch CSU-Chef Markus Söder klargestellt. Merz sicherte von der Leyen öffentlichkeitswirksam volle Unterstützung zu, als die neulich zu Besuch in Berlin war. Für Söder ist von der Leyen gar „die geborene Spitzenkandidatin“.

Die Treueschwüre von höchster Stelle, unterfüttert beim EVP-Parteitag dieser Tage in München, werfen zwei wichtige Fragen auf: Ist von der Leyen, zumindest in ihrer eigenen Parteienfamilie, wirklich so unangefochten, wie Merz und Söder mit ihren Plädoyers suggerieren? Und was wird bei der Europawahl 2024 eigentlich aus dem berüchtigten Spitzenkandidatenprinzip, das von der Leyen gewissermaßen persönlich auf dem Gewissen hat?

Die Antwort auf die erste Frage fällt vergleichsweise leicht: Unangefochten ist von der Leyen in den eigenen Reihen allenfalls, was ihre Machtposition betrifft. Inhaltlich löst die von ihr geführte EU-Kommission bei nicht wenigen Irritationen und Widerspruch aus, auch wenn das offen so niemand aussprechen würde.

Die grüne Industriepolitik gepaart mit dem Eintreten für soziale Belange in aller Welt ist für so manchen in der Union Ausdruck einer Weltverbesserer-Attitüde, die Unternehmen über Gebühr belastet. In der EVP würde man Teile des Green Deal sogar gerne zurückdrehen. Dass von der Leyen 25% Bürokratieabbau gelobt und zudem veranlasst hat, alle Gesetze auf deren Folgen für die globale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu prüfen, löst mitunter verräterisches Schmunzeln aus. Und nicht nur finanzpolitische Hardliner zweifeln daran, dass der von ihr angekündigte Souveränitätsfonds als neue Geldquelle der Kommission nötig ist.

Es sind vor allem Vertreter der Grünen, die insgeheim für von der Leyen schwärmen. Sie werden einer zweiten Amtszeit jedenfalls nicht im Wege stehen. Das haben sie mit dem Koalitionsvertrag sogar unterschrieben. Demnach haben die Grünen das Recht, den nächsten deutschen EU-Kommissar zu nominieren – außer Deutschland stellt die nächste Kommissionspräsidentin. Die Berliner Ampelkoalition hat von der Leyen damit quasi einen Freifahrtschein ausgestellt.

Fast wirkt es so, als müsste von der Leyen bloß Ja sagen und die zweite Amtszeit wäre ihr kaum zu nehmen – wäre da nicht die Frage nach der Spitzenkandidatur. Europas Parteienfamilien, so die Idee, nominieren vor der Wahl starke Persönlichkeiten für die Kommissionsspitze. Im ersten Versuch hat das noch gut funktioniert, als Jean-Claude Juncker mit entsprechendem Wählervotum im Rücken Chef der EU-Kommission wurde. Mit von der Leyen ist das Spitzenkandidatenprinzip allerdings fürs Erste gescheitert. Denn als Spitzenkandidat für die EVP war 2019 Manfred Weber angetreten – ehe die EU-Staaten auf von der Leyen umschwenkten.

Und 2024? Das EU-Parlament dringt auf eine Rückkehr zum Spitzenkandidatenprinzip. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass einzelne EU-Staaten vor der Wahl Fakten schaffen und von der Leyen eine zweite Amtszeit sichern wollen. Interesse wird Emmanuel Macron nachgesagt: Frankreichs Präsident hat von der Leyen vor vier Jahren durchgedrückt – und die hat ihn nicht enttäuscht. Ursula von der Leyen muss sich also bald erklären: Ob sie eine zweite Amtszeit anstrebt – und ob sie bereit ist, sich diesmal dem Wähler an der Urne zu stellen.

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