Kleiner Vorgeschmack auf eine Taiwan-Eiszeit
Kleiner Vorgeschmack auf eine Taiwan-Eiszeit
Kleiner Vorgeschmack auf eine Taiwan-Eiszeit
Chinesische Strafmaßnahmen gegen Japan lasten auf dem Tokioter Aktienmarkt. Ein „Taiwan-Notfall“ würde auch Deutschland schwer treffen.
Von Martin Fritz, Tokio
Japans Premierministerin Sanae Takaichi hat eingeräumt, ihre umstrittene Aussage zu einem „Taiwan-Notfall“ versehentlich gemacht zu machen. „Ich hatte nicht die Absicht, Einzelheiten zu nennen“, sagte sie vergangene Woche. Am Mittwoch ergänzte sie, Japan „verstehe und respektiere“ Chinas Ansicht, dass Taiwan Teil seines Hoheitsgebiets sei, wie es schon 1972 bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen hieß. Takaichi hatte am 7. November den „Einsatz von Kriegsschiffen und die Ausübung von Gewalt“ gegen Taiwan als Beispiel für eine „existenzielle Bedrohung“ von Japan genannt. Damit deutete sie an, dass Japan unter diesen Umständen den USA bei der Verteidigung von Taiwan helfen würde. Kein japanischer Premier hatte einen „Taiwan-Notfall“ jemals so konkret beschrieben.
Größte Boykotte seit 2012
Damit löste Takaichi die größte chinesische Boykottkampagne gegen Japan seit 13 Jahren aus, weil sie angeblich dem Ein-China-Prinzip widersprochen hätte, wonach Taiwan neben China kein Recht auf Eigenstaatlichkeit hat. Zu den von China ergriffenen Strafmaßnahmen gehörten Warnungen vor Reisen nach Japan und einem Studium in Japan, ein Einfuhrstopp für japanische Meeresfrüchte und die Stornierung von Kulturveranstaltungen in China. Japans Regierung versuchte, kein Öl ins Feuer zu gießen. Takaichi habe ihre Aussage „de facto zurückgenommen“, sagte Yoshihiko Noda, Chef der größten Oppositionspartei CDP. Doch China beharrt auf einem offiziellen Rückzug.
Deswegen liegen an der Tokioter Börse die Nerven blank. In den ersten Handelstagen nach Chinas Reisewarnung knickte der Nikkei 225 um rund 3% ein. Besonders betroffen waren Reise-, Retail- und Konsumtitel mit starkem Chinageschäft. Die Anleger waren zu Recht vorsichtig: Für Dezember stornierten chinesische Veranstalter die Hälfte der Flüge nach Japan und die Hälfte aller Hotelbuchungen in Japan. Dadurch entgehen Japan aufs Jahr hochgerechnet Einnahmen von 1 Bill. Yen (5,5 Mrd. Euro). Die Umsätze japanischer Geschäfte und Restaurants in China gingen zurück.
Eskalation jederzeit möglich
Falls der Streit eingedämmt bleibt, erwarten Analysten keine weiteren Negativeffekte auf den Aktienmarkt. Jedoch könnte China jederzeit ökonomisch eskalieren, zum Beispiel durch einen staatlich sanktionierten Kaufboykott für japanische Produkte, so wie 2012, als China Japan dafür bestrafte, Grundstücke auf den von China beanspruchten Senkaku-Inseln zu verstaatlichen. Oder wie 2010, als China wegen eines Zwischenfalls um die Inseln ein Handelsembargo für seltene Erden verhängte.
Diese Damoklesschwerter dürften länger über dem Markt schweben. Die Beziehungen werden „mindestens einige Monate lang auf Eis liegen“, meinte zum Beispiel Li Hao, China-Spezialist an der Universität Tokio. Taiwans Außenminister Lin Chia-lung sprach von „einem Jahr“. Ein Grund: Der geplante Gipfelbesuch von US-Präsident Donald Trump im Frühjahr in Peking und der verabredete US-Gegenbesuch von Präsident Xi Jinping sorgen für eine Pause im Zoll- und Handelskrieg beider Nationen. Dadurch gewinnt China Handlungsfreiheit für eine längere Kampagne gegen Japan bis zum APEC-Gipfel im November 2026 in Shenzhen.
Chinas große Wut erklärt sich zum einen damit, dass Japans neue Premierministerin als „pro-taiwanesisch“ wahrgenommen wird. Taiwans Präsident Lai Ching-te hatte sie in einem Glückwunsch-Tweet am 4. Oktober als „loyale Freundin Taiwans“ bezeichnet. Deswegen „aktualisiere“ China nun seine Japan-Politik, meinte der Politikwissenschaftler Makoto Kawashima von der Universität Tokio. „Diese Politik dürfte eine Neudefinition von Taiwans Position umfassen“, schrieb Kawashima.
Takaichi zerstört Chinas Logik
Zum anderen ärgert sich Peking darüber, dass Takaichi Chinas Einschüchterungskampagne gegen Taiwan unterlaufen hat. Militärmanöver und Desinformationskampagnen sollen die Bevölkerung Taiwans davon überzeugen, dass Widerstand gegen die „Rückkehr“ ins Reich der Mitte zwecklos und Kapitulation der einzige Weg zur Kriegsvermeidung ist. Takaichis Zusage einer Militärhilfe für die USA zerstört diese Logik und trägt in der Sicht Chinas dazu bei, eine eigene nationale Identität in Taiwan zu festigen.
Mehrere japanische Versuche, mit Peking wieder ins Gespräch zu kommen, erfolgten aus der Einsicht einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von China, die nur langsam zurückgegangen ist. Im Schnitt stammen laut einer UBS-Kalkulation nur etwas mehr als 10% aller japanischen Firmenumsätze von dort (s. Grafik). Japans Exporte nach China sanken nach JETRO-Angaben zwischen 2021 und 2024 um 24% und Importe aus China um 10%.
Der China-Anteil von Japans Gesamtbestand an Auslandsinvestitionen schrumpfte von 8,6% im Jahr 2015 auf 6,4% im Jahr 2023. Aber einzelne Konzerne weisen laut einem Bunshun-Bericht hohe Anteile an China-Umsätzen auf, angeführt von Elektronikwerten wie TDK (54%), Murata (48%) und Tokyo Electron (42%) sowie Konsumwerten wie Shiseido (31%) und Muji (18%). Japanische Batterie-Einfuhren wuchsen seit 2019 um das 2,6-fache, weil die Autobauer stärker auf chinesische Zulieferer angewiesen sind.
Fokus auf Wirtschaftssicherheit
Daher legt Japans neue Regierung verstärkt Gewicht auf eine höhere wirtschaftliche Sicherheit. „Japan ist bestrebt, strukturelle Verwundbarkeiten zu verringern und kritische Abhängigkeiten zu minimieren, wobei Tokio die Vorteile enger Handelsbeziehungen soweit möglich aufrechterhalten will“, schreiben Alexandra Sakaki und Kento Fukuta in einer aktuellen Studie. Ende Oktober schloss Takaichi ein Abkommen mit den USA, um gemeinsam alternative Bezugsquellen für kritische Mineralien zu erschließen.
Nach dem chinesischen Embargo im Jahr 2010 reduzierte Japan den Importanteil von seltenen Erden aus China bereits von knapp 90% auf 60%. Auch fördert Japan den Aufbau eigener Halbleiterkapazitäten mit 10 Bill. Yen (55 Mrd. Euro). Zudem verschärft die Regierung die Exportkontrollen für strategisch wichtige Technologien sowie die Genehmigung von chinesischen Investitionen in kritische Infrastruktur in Japan.
Kein deutsches Krisenbewusstsein
An solchem Krisenbewusstsein für einen „Taiwan-Notfall“ mangelt es in Deutschland, obwohl die kleine Inselrepublik Deutschlands wichtigster Chiplieferant ist. „Jegliche politische, wirtschaftliche oder sogar militärische Eskalation in der Region und speziell um Taiwan könnte der deutschen Wirtschaft erheblich schaden", sagte Claudia Wessling vom Berliner Mercator-Institut für China-Studien der Agentur Reuters. Japan und Deutschland teilten mit Blick auf China ähnliche Sorgen, schreiben Sakaki und Fukuta. Daher sollten Berlin und Tokio ihre Zusammenarbeit in Fragen der Wirtschaftssicherheit, der Resilienz kritischer Lieferketten und bei der Verteidigung vertiefen.
