LeitartikelKlimaschutz

Zankapfel Zertifikatehandel

Die energieintensiven Industrien laufen Sturm gegen die Abschaffung kostenfreier Emissionszertifikate. Dabei sind die Kosten des Klimawandels höher als jene zur Emissionsreduktion – nur die Zeche zahlen andere.

Zankapfel Zertifikatehandel

Klimaschutz

Zankapfel Zertifikatehandel

Von Annette Becker

Schlägt sich die energieintensive Industrie in Deutschland nun vollends auf die Seite der Klimaleugner? Wer in den vergangenen Wochen die Wirtschaftsnachrichten verfolgte, könnte zu diesem Schluss kommen. Mit markigen Worten haben sich insbesondere Vertreter der Chemieindustrie aus dem Fenster gelehnt. Der Zankapfel: das europäische Handelssystem für Emissionszertifikate – kurz ETS. Für manch einen ist das ETS „volkswirtschaftlicher Irrsinn“, andere befürchten den „Knock-out“ für ihre Industrie. Mehr oder weniger deutlich wird die Abschaffung des 2005 eingeführten Systems gefordert. Dabei hat es sich nachweislich bewährt.

Dass sich die vereinzelten Rufe gerade jetzt zu lautem Geschrei akkumulieren, hat einen simplen Grund: Im ETS 1, der den Zertifikatehandel für Energie und Industrie regelt, beginnt von 2026 an die schrittweise Reduzierung der kostenfreien Zuteilung von Verschmutzungsrechten. Darauf hatte sich die EU Ende 2022 verständigt. Drei Jahre konjunktureller Talfahrt und ein Jahr Trump’scher Klimaschutzverachtung später will heute jedoch kaum noch jemand etwas von den Vereinbarungen wissen. Die Transformation der Wirtschaft wird vertagt – zumindest so weit es die Einbeziehung der Sektoren Gebäude und Verkehr im Rahmen des ETS 2 betrifft.

Niedrig hängende Früchte abgeerntet

Wenngleich noch nicht entschieden ist, wie im ETS 1 künftig mit der Zuteilung kostenfreier Zertifikate umgegangen wird, zeigt sich die Politik gegenüber den Argumenten der Industrie aufgeschlossen. Dass Ökonomen vor der Abkehr vom Handelssystem warnen – egal. Dabei weiß jeder, dass es das einzige marktwirtschaftliche Lenkungsinstrument im Klimaschutz ist. Es führt dort zur Emissionsreduktion, wo es am kostengünstigsten zu bewerkstelligen ist.

Natürlich sind die niedrig hängenden Früchte nach zehn Jahren ETS abgeerntet und weitere Emissionseinsparungen schwerer zu erreichen – gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Doch ist auch klar, dass die volkswirtschaftlichen Folgekosten des Klimawandels weitaus höher sind als die – zugegebenermaßen kostspieligen – Maßnahmen zur Vermeidung klimaschädlicher Emissionen. Genau hier liegt das eigentliche Problem: Die Kosten der Emissionsreduktion trägt jedes Unternehmen für sich, die mit Überschwemmungen, Dürreperioden und Extremstürmen einhergehenden Kosten der Klimakrise tragen dagegen Gesellschaft, Steuerzahler und vielleicht noch die Versicherungswirtschaft.

Mangelhafter Grenzausgleichsmechanismus

Jenseits der schrillen Töne hat die Industrie natürlich auch valide Argumente. So ging die Entscheidung, die kostenfreien Zertifikate bis 2034 in Gänze abzuschaffen, mit der Versicherung einher, Importe in die EU mit einem Klimazoll zu belegen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Doch der Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) wird die an ihn gesteckten Erwartungen nicht erfüllen, das ist schon vor seiner Vollanwendung 2026 klar.

Zum einen werden gewiefte Importeure Wege finden, den Klimazoll zu umgehen. Zum anderen erfasst der CBAM vorerst nur Grundstoffe wie Eisen und Stahl, Zement, Düngemittel, weitere Chemikalien und Polymere sollen folgen. Waren, die CBAM-pflichtige Vorprodukte enthalten, werden dagegen nicht mit dem Klimazoll belegt. Dass mit dem CBAM ein ganzer Rattenschwanz an Berichts- und Belegpflichten einhergeht, macht das gut gemeinte Instrument nicht eben tauglicher. Unklar ist zudem, wie Exporteure aus der EU ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt erhalten sollen. Bis heute ist offen, wie ein funktionierender Kompensationsmechanismus aussehen könnte.

Wirksamer Außenschutz nötig

Doch bei allem Verständnis für die schwierige Lage der energieintensiven Industrien, dass Deutschland nur für 2% der weltweiten CO₂-Emissionen steht, ist ein Totschlagargument. Ja, es muss Anpassungen geben. Diese sollten allerdings weniger am Handelssystem vorgenommen werden. Vielmehr braucht es einen wirksamen Außenschutz, der zugleich sicherstellt, dass Exporte aus der EU auf dem Weltmarkt nicht benachteiligt werden. Vorschläge dazu gibt es.

Die Kosten des Klimawandels sind höher als jene zur Emissionsreduktion. Letztere müssen jedoch die Unternehmen tragen. Das erklärt den wachsenden Widerstand gegen das bewährte Emissionshandelssystem.