Einreisekontrollen

Öffnet die Grenzen!

Dieser Tadel sitzt. In einem Brief an die Bundesregierung beschwert sich die EU-Kommission über die einsame Entscheidung Berlins, an den Grenzen zu Tschechien, Tirol und der Slowakei jeden Einreisenden zu kontrollieren: „Wir glauben, dass das...

Öffnet die Grenzen!

Dieser Tadel sitzt. In einem Brief an die Bundesregierung beschwert sich die EU-Kommission über die einsame Entscheidung Berlins, an den Grenzen zu Tschechien, Tirol und der Slowakei jeden Einreisenden zu kontrollieren: „Wir glauben, dass das nachvollziehbare Ziel Deutschlands – der Schutz der öffentlichen Gesundheit in einer Pandemie – durch weniger restriktive Maßnahmen erreicht werden könnte.“ Mehrere Vorgaben seien unverhältnismäßig oder unbegründet. Setzen, sechs.

Mit ihrem Alleingang handelt die Bundesregierung epidemiologisch naiv, europapolitisch fahrlässig und strategisch kurzsichtig. Obendrein bricht sie ihr Versprechen, ihren Fehler aus dem Frühjahr 2020 nicht zu wiederholen. Der kleinlaute Konter von EU-Staatsminister Michael Roth, man handle im Einklang mit dem Schengener Übereinkommen, täuscht darüber nicht hinweg. Hier geht es nicht um eine schlechte B-Note im Krisenmanagement, wie es vor Tagen an einer Stelle hieß. Zu viel setzt die Bundesregierung aufs Spiel: die wirtschaftliche Erholung, die in der Coronakrise viel beschworene Solidarität in Europa, ja Errungenschaften wie die Freizügigkeit als gelebtes Ideal in der Europäischen Union.

Berlin kann von Glück sagen, dass die Kontroverse vorerst wie ein weiteres politisches Scharmützel mit Brüssel wirkt. Die Befürchtungen speziell in der Autoindustrie mit ihrem Just-in-Time-Produktionsnetzwerk quer über Osteuropa, Lieferketten könnten kollabieren und Werke stillstehen, hat sich trotz zig Kilometer langer Staus bislang nicht bewahrheitet. Die Warnungen aus den Branchen Auto, Logistik und Nahrungsmittel sowie vonseiten namhafter Ökonomen ebben aber nicht ab. Der Chef der Wirtschaftsweisen, Lars Feld, ließ sich gerade im Hinblick auf die schon einmal nach unten revidierte Konjunkturprognose seines Sachverständigenrats von derzeit +3,7% mit den Worten zitieren: „Eine Drei vor dem Komma“ sei noch möglich, vorausgesetzt, behutsame Öffnungen verhinderten eine dritte Viruswelle – und es würden „weitere Grenzkontrollen vermieden“.

Nicht nur konjunkturell spielt Berlin russisch Roulette. Eine Gruppe hochrangiger Forscher um Ifo-Präsident Clemens Fuest tritt unter dem Label „No Covid“ dafür ein, die Infektionszahlen deutlich weiter zu drücken, bevor an „umfassende und nachhaltige Lockerungen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ zu denken ist. Ihre Agenda ist konsequent, aber nicht kompromisslos: Grüne Zonen mit niedriger Inzidenz in ganz Europa ausweisen, Tests, Nachverfolgung und Isolierung beschleunigen, das Management von Ausbrüchen lokal steuern. Dieser Ansatz atmet auf bemerkenswerte Weise den Geist des Subsidiaritätsprinzips aus den EU-Verträgen. Was gar nicht dem Geiste der EU-Verträge entspricht und daher von den No-Covid-Verfechtern zu Recht abgelehnt wird, ist das Schließen der Binnengrenzen. Die Bundesregierung hat sich hingegen nicht einmal die Mühe gemacht, eine vernünftige Testinfrastruktur an den Grenzen einzurichten.

Sie be­gründet die Grenzkontrollen mit dem Schutz ihrer Bürger. Wie bitte schön ist dann zu rechtfertigen, dass im November 20000 Maskenverweigerer aus allen Teilen Deutschlands in Leipzig und Berlin demonstrieren durften? Nicht nur konnten die selbsternannten Querdenker unbehelligt ihre Verachtung für die geltenden Regeln zur Schau tragen. Sie haben mit ihrem Verhalten dazu beigetragen, dass sich das Coronavirus rascher verbreitet hat. Das belegen Ökonomen des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit Daten zu auffällig erhöhten Sieben-Tage-Inzidenzen in Landkreisen, aus denen Busse Dutzende Teilnehmer zu den Demonstrationen chauffierten. Vernunftbegabte Menschen und überzeugte Europäer ziehen die bittere Erkenntnis: Feixende Corona-Leugner lässt die Politik mit Verweis auf Grundrechte gewähren, Grenzpendler und Lkw-Fahrer, die ihrer Arbeit nachgehen, stellt sie unter Missachtung von Grundfreiheiten unter Generalverdacht.

Diese irrationale Doppelmoral schmerzt. Zumal die Grenzkontrollen ein strategisches Eigentor in der Europapolitik sind. Man mag sich lieber nicht ausmalen, wie ein Viktor Orbán die Bundesregierung beim nächsten Migrationsgipfel auflaufen lassen wird, wenn er die Aufnahme von Flüchtlingen verweigert – und das mit dem vermeintlichen Schutz der eigenen Bevölkerung begründet. In der Krise zeigt sich der Charakter: Wenn etwas dran ist an diesem Spruch, ist die Bundesregierung krachend durch den Charaktertest gefallen. Das hat sie mit der gestrigen Verlängerung der Grenzkontrollen einmal mehr bewiesen.