Der ehemalige Inditex-Chef Pablo Isla wird Chairman von Nestlé
Von Mode zu Maggi
Von Martin Dunzendorfer, Frankfurt
Nach 20 Jahren, in denen Nestlé nur zwei Verwaltungsratspräsidenten hatte, die beide zuvor CEO des Unternehmens waren, bekommt der weltgrößte Lebensmittelkonzern nun wieder einen Chairman, der nicht zuvor mit der operativen Führung des Unternehmens betraut war: Pablo Isla. Der Spanier hat den Zara-Mutterkonzern Inditex als CEO von 2005 bis 2011 und danach als Verwaltungsratschef bis 2022 geführt. Unter seiner Ägide wurde Inditex einer der bedeutendsten Modeanbieter der Welt. Nun soll der 61-jährige seine Erfahrung mit sich schnell ändernden Kundenwünschen und den damit verbundenen Logistikanforderungen – die Handelskette Zara ist auf „Fast Fashion“ spezialisiert – sowie seine digitale Expertise einbringen, um Nestlé aus der Krise zu helfen.
Erfahrener Chairman, junger CEO
Auch wenn der Sprung von T-Shirts und Jeans zu Kaffee und Süßigkeiten nicht naheliegt, so scheinen viele Investoren aufgrund der Erfolgsbilanz des Iberers überzeugt zu sein, dass Isla der Richtige für diese Herausforderung ist – zumal er in Kombination mit dem neuen und relativ jungen CEO Philipp Navratil (49) gute Voraussetzungen mitbringt. Der Jurist, der von Fachzeitschriften wie der „Harvard Business Review“, „Barron´s“ und „Forbes“ mehrfach unter die besten Vorstandschefs der Welt gewählt wurde, gilt als der Architekt, der die Modekette Zara ins digitale Zeitalter führte.
Isla setzte bei Zara auf neue Technologien, um die Logistik zu verschlanken und Produkte schneller in die Läden zu bringen. Eine zentrale Neuerung war die Einführung eines Funkchips in jedem Kleidungsstück. Damit konnte das Unternehmen in Echtzeit verfolgen, welche Artikel sich gut verkauften. Zudem zeigte das System den Mitarbeitern, welche Größen und Stile nachgefüllt werden mussten.
Neue Technologien sollen auch für Nestlé der Schlüssel zum Erfolg werden. So will der Konzern verstärkt künstliche Intelligenz einsetzen, um Lieferketten, Vertrieb und Produktion zu verbessern.
Freundlich, aber fordernd
Weggefährten von Isla beschreiben ihn als freundlich, aber fordernd. Erwartet wird, dass er als Verwaltungsratspräsident von Nestlé sich auch ins Tagesgeschäft einmischen wird. Anders als bei Inditex, wo die Gründerfamilie Ortega das Sagen hat, ist das Aktionariat von Nestlé breit gestreut. Das gibt ihm Freiraum, um unbequeme Veränderungen vorzunehmen. Das ist wohl auch notwendig, denn beim Versuch, Nestlé mittels Akquisitionen wieder zu mehr Wachstum zu verhelfen, ist der Konzern in den letzten Jahren fast zum Gemischtwarenladen geworden. Zum Geschäft wurde alles gezählt, was in Mägen landet – nicht nur „Maggi“-Würzsauce, „Kitkat“-Schokoriegel, „Wagner“-Pizza und „Perrier“-Wasser, sondern auch Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und medizinische Nahrung. Nun gilt es mehr denn je, Geschäfte abzustoßen, die entweder wachstumsschwach und/oder renditearm sind bzw. die nicht wirklich der Kernkompetenz entsprechen.
20-Prozent-Paket an L´Oréal als Dispositionsmasse
Die operativen Probleme, insbesondere der sinkende Absatz, und die Verwässerung des Kerngeschäfts sorgten bei der Aktie für eine starke Underperformance: Seit dem Rekordhoch zur Jahreswende 2021/2022 bei knapp 130 sfr ist der Kurs um etwa 45% auf knapp 72 sfr gesunken. Inzwischen erodiert auch der Glaube an die Verlässlichkeit von Nestlé als stabilen Dividendenzahler, zumal sich Investoren zum ersten Mal Sorgen um den Schuldenberg von netto rund 60 Mrd. sfr (30. Juni) machen. Früher schien das angesichts starken Wachstums, steigender Rentabilität und des hohen Free Cashflows kein Thema zu sein. Nun wird spekuliert, dass Nestlé – um die Schulden reduzieren zu können – einen Teil ihrer 20%-Beteiligung am französischen Kosmetikkonzern L‘Oréal verkaufen könnte. Dafür erfordert es jedoch eine gehörige Portion unternehmerischen Mut, den die vergangenen CEOs und Chairmen nicht aufbrachten. Dem „konzernfremden“ Isla, der seit 2018 Mitglied im Verwaltungsrat von Nestlé ist – vergleichbar dem deutschen Aufsichtsrat –, könnte das zusammen mit Navratil leichter fallen als den Altvorderen.
Die Schweiz kennt keine Cooling-off-Periode
Sowohl Peter Brabeck-Letmathe, der von 1997 bis 2008 die operative Führung und von April 2005 bis April 2017 dem Board of Directors vorstand, als auch Paul Bulcke, der von April 2008 bis April 2017 CEO und seit April 2017 Verwaltungsratschef war, kannten den Konzern in- und auswendig. Dieser Wechsel vom CEO- auf die Chairman-Position ohne Wartezeit hat durchaus beachtliche Vorteile. Man besitzt – im positiven Sinne – Insiderwissen und kennt u.a. die Stärken und Schwächen der Manager auf den Chefetagen. Dass der Wechsel vom Cheflenker zum Chefaufseher auch Nachteile mit sich bringen kann, ist aber bekannt. In Deutschland wurde die sogenannte Cooling-off-Periode 2009 eingeführt, nach der zwischen dem Ausscheiden aus dem Vorstand einer Kapitalgesellschaft und der Aufnahme in den Aufsichtsrat des gleichen Unternehmens in der Regel mindestens zwei Jahre vergehen müssen. Durch die Zwangspause von zwei Jahren wollte der Gesetzgeber den Einfluss ehemaliger Manager auf ihre Nachfolger und damit auf die Unternehmensstrategie beschränken.
In der Schweiz, in der der Global Player Nestlé seinen Sitz hat, gibt es diese Regelung nicht. Brabeck-Letmathe war von 2005 bis 2008 sogar CEO und Chairman in Personalunion; auf die teils heftige Kritik an diesem Zustand reagierte er seinerzeit gereizt und mit Unverständnis. Welch gravierende Probleme der direkte Wechsel vom CEO- auf den Chairman-Stuhl schaffen kann, wurde im Fall von Nestlé aber erst in den vergangenen Wochen für Beobachter so richtig offensichtlich.
Im Grunde seit über 20 Jahren die gleiche Strategie
Brabeck-Letmathe (80) und Bulcke (71) hatten nach ihrer Zeit als Chief Executives darauf geachtet, dass der Nachfolger – bei Brabeck-Letmathe war es Bulcke, bei Letzterem erst der Quereinsteiger Mark Schneider (Januar 2017 bis August 2024), dann Laurent Freixe (bis 1. September dieses Jahres) – die eigene Strategie im Großen und Ganzen weiterverfolgte. Die lautete einfach ausgedrückt: weg von klassischen Lebensmitteln, hin zu höhermargigen Spezialprodukten. Lediglich Nuancen durften an dieser Strategie verändert werden.
Als gegen Ende von Bulckes Amtszeit als CEO das Wachstum von Nestlé zu stottern begann, wurde Schneider (60) geholt, der sich in den Jahren als Vorstandschef von Fresenius (2003 bis 2016) den Ruf erworben hatte, erfolgreich Übernahmen zu managen und einem an sich trägen Gesundheitskonzern so zu Wachstum zu verhelfen. So sollte er auch bei Nestlé für frischen Wind sorgen. Da Bulcke schwer auf ein „Weiter so“ pochen konnte, wurde Schneider relativ viel Freiraum gewährt. Der Deutsch-Amerikaner kaufte Nischenanbieter im Kaffeemarkt und stärkte vor allem die Health-Science-Division. Für die Akquisitionen wurden hohe Multiples auf Umsatz und Gewinn gezahlt. Die ersten Jahre goutierten Anleger diese Vorgehensweise. Doch als das Wachstum auch mittelfristig einfach nicht anspringen wollte und hohe Abschreibungen auf die Zukäufe vorgenommen werden mussten, wurde der einstige Hoffnungsträger im August vorigen Jahres durch das Nestlé-Urgestein Freixe ersetzt, der seit 1986 für den Konzern tätig war und zuletzt das Lateinamerika-Geschäft geführt hatte.
CEO Freixe wegen romantischer Beziehung mit Mitarbeiterin gefeuert
Am 1. September dieses Jahres platzte dann die Bombe: Der Verwaltungsrat unter Vorsitz von Bulcke entließ Freixe (63) wegen einer nicht offengelegten romantischen Beziehung des CEO mit einer ihm direkt unterstellten Mitarbeiterin, was gegen den Nestlé-Verhaltenskodex sowie interne Richtlinien verstieß. Nachfolger von Freixe wurde Navratil, der zuvor die Kaffeekapselsparte von Nestlé, Nespresso, geleitet hatte. Der Manager, der die schweizerische und österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, galt zwar als Anwärter auf die Stelle des CEO, doch mit einer so schnellen Beförderung konnte niemand rechnen – schließlich war Navratil erst Anfang des Jahres in den Executive Board (vergleichbar mit dem Konzernvorstand in Deutschland) aufgenommen worden.
Der Skandal um Freixe zog Kreise. Bulcke wurde vorgeworfen, lange Zeit zu unentschlossen gegen Freixe vorgegangen zu sein, den er in früheren Tagen als „Freund“ bezeichnet hatte. Dabei wurde kolportiert, dass die jüngste Liebschaft von Freixe mit einer Konzernmitarbeiterin kein Einzelfall gewesen sein soll. Von „sorgsam gehütetes Geheimnis“ bis „offenes Geheimnis“ lauten dazu die Aussagen aus der Umgebung des Managements. Der Druck von Investoren auf Bulcke wurde schließlich so groß, dass er – obgleich er schon früher angekündigt hatte, nicht für eine Wiederwahl in der nächsten Hauptversammlung zur Verfügung zu stehen – seinen Rücktritt für Ende September ankündigte.
Ramponierten Ruf retten
Nun soll Isla als Erstes wieder Ruhe in den Konzern bringen, nachdem der Ruf von Nestlé – über Jahrzehnte der Inbegriff von Zuverlässigkeit – ramponiert ist. Das könnte ihm gelingen, sofern nicht weitere Skandale öffentlich werden. Seine zweite Aufgabe wird ungleich schwieriger: Zusammen mit CEO Navratil dafür zu sorgen, dass Nestlé frühere Wachstumsraten von mindestens 4% pro Jahr erreicht und dabei nicht an Profitabilität einbüßt.
Diesem Ziel stehen zwei Dinge entgegen: Zum einen kämpfen nahezu alle Markenanbieter in der Konsumgüterbranche mit Marktanteilsverlusten, da Verbraucher verstärkt zu No-Name- und Handelsmarken greifen. Freixe wollte u.a. mit mehr Werbung gegen die rückläufigen Verkaufsvolumina vorgehen. Das aber ist angesichts der großen Verunsicherung unter den Konsumenten, die verstärkt auf das Preis-Leistungs-Verhältnis achten, eine viel zu simple Strategie. In diesem Umfeld verbietet sich auch, die Kostensteigerungen – u.a. für Agrarrohstoffe und Energie – über Preiserhöhungen an die Verbraucher abzuwälzen, was die Margen unter Druck bringen wird.
Zum anderen hat Isla, der seit sieben Jahren Mitglied im Board of Directors ist, in dieser Zeit die personellen und strategischen Entscheidungen von Bulcke bzw. der wechselnden CEOs mitgetragen. Er kann also nicht für sich in Anspruch nehmen, unbelastet zu sein und nichts mit früheren Beschlüssen zu tun gehabt zu haben. Der Spanier hat nun die Wahl, in einigen strategischen Fragen – etwa dem Ausbau der Health-Science-Sparte – eine Kehrtwende zu vollziehen und damit seiner Glaubwürdigkeit zu schaden oder lediglich kosmetische Änderungen an der Strategie und am Portfolio vorzunehmen. Darauf wird sich der neue CEO Navratil jedoch nicht einlassen, schließlich wird vor allem von ihm gefordert, Nestlé wieder auf den Erfolgskurs zurückzuführen.