„Kissinger würde von der Leyen anrufen“
Wahrscheinlich ist es eine Wanderlegende – so wie die Spinne in der Yucca-Palme. Denn angeblich konnte sich, als er darauf angesprochen wurde, nicht einmal Henry Kissinger selbst daran erinnern. Aber die Geschichte hält sich – vor allem in Brüssel. Erzählt wird, der ehemalige US-Außenminister habe damals in den Siebzigern einmal die Frage gestellt, wen er eigentlich anrufen solle, wenn er die EU anrufen wolle. Bis heute diskutieren sich Akademiker die Köpfe heiß, wer die EU denn nun tatsächlich nach außen vertritt. Die EU-Außenbeauftragte, also gegenwärtig die Estin Kaja Kallas? Oder der EU-Ratspräsident, momentan der Portugiese António Costa? Oder vielleicht ja auch der Premierminister des Landes, das gerade den EU-Ratsvorsitz inne hat, derzeit also der Pole Donald Tusk.
„Kissinger würde von der Leyen anrufen“
Von Detlef Fechtner, Aachen
Eine Präsidentin wie keiner vor ihr
Für Friedrich Merz gibt es da gar keinen Zweifel: „Kissinger würde von der Leyen anrufen“, sagte der Bundeskanzler in seiner Laudatio für die EU-Kommissionschefin, die am Donnerstag den Europäischen Karlspreis in Empfang genommen hat – mithin die höchste Auszeichnung, die man für den Einsatz für ein vereintes Europa erhalten kann.
Mit seiner Beantwortung der „Kissinger-Frage“ unterstrich Merz, warum sich von der Leyen von anderen EU-Kommissionschefs unterscheidet. Denn ihr ist es gelungen, sich als „Stimme der EU“ im Kontakt mit Partnern oder Kontrahenten zu etablieren. Aktuell beispielsweise ist sie die zentrale Ansprechpartnerin für die USA und China im Handelskonflikt. Nicht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, nicht Bundeskanzler Merz und auch nicht Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, selbst wenn US-Präsident Donald Trump diesen Versuch einmal gemacht hat. Man kann gewiss darüber streiten, wie erfolgreich von der Leyen in den Verhandlungen ist oder auch nicht. Aber unstrittig ist, dass sich die nationalen Regierungen – zumindest bislang – hinter ihr versammeln und ihrer Strategie im Handelskonflikt folgen. Sie sei, wie es Laudator Merz im Aachener Krönungssaal überschwänglich formulierte, „die starke Vertreterin eines starken Europas“.
Plädoyer für starkes Europa
Von der Leyen bekannte zum Auftakt und zum Ende ihrer Dankesrede: „Europa ist mein Leben.“ Das mag zwar ebenfalls theatralisch klingen. Aber immerhin kann die 66-jährige approbierte Medizinerin auf einige Einträge in ihrem Lebenslauf verweisen, die mit der EU zu tun haben – etwa, dass sie einst, im Brüsseler Stadtteil Ixelles geboren, die Europaschule in Belgiens Hauptstadt besuchte. Ihre Karlspreis-Rede nutzte von der Leyen zum Plädoyer, für ein „unabhängiges Europa“ einzutreten, wobei sie „Europa“ über die EU hinaus verstanden wissen will. Mit Großbritannien, das in Zeiten des Ukraine-Kriegs gerade wieder seine Verbundenheit mit den EU-Nachbarn beweise. Mit den Westbalkan-Staaten und der Republik Moldau, die in die EU strebten. Und natürlich mit der Ukraine.
Gerade angesichts der „internationalen Unordnung“ sei Unabhängigkeit im Sinne von Emanzipation und Stärke wichtig. Mit Blick auf den weltweiten Handel etwa unterstrich sie die Bedeutung, die EU wieder wettbewerbsfähig zu machen, damit sie von anderen als attraktiver Investitionsstandort angesteuert wird. „Choose Europe“, lautet ihre Formel. Schließlich habe Europa vieles zu bieten, nicht nur einen Markt mit 450 Millionen Verbrauchern. Sondern auch, und hier war der Seitenhieb auf den aktuellen Druck der US-Regierung auf die Harvard-Universität offensichtlich, weil in Europa „Wissenschaftsfreiheit herrscht“.