Die strategische Bedeutung von US-Sammelklagen für europäische Investoren
Die strategische Bedeutung von US-Sammelklagen für europäische Investoren
Europas Lücke bei US-Sammelklagen
Trotz Rekordrückflüssen bleiben europäische Investoren zurückhaltend – SEC mit Kehrtwende in Richtung Schiedsverfahren
Von Domenico Minerva und Jamie Hanley *)
Für 2024 berichtet ISS Securities Class Action Services weltweite Rückerstattungen aus Anlegerklagen von über 6 Mrd. US-Dollar. Allein aus US-amerikanischen Sammelklagen flossen 3,9 Mrd. US-Dollar zurück: ein deutliches Signal für die Größe und Bedeutung des US-Sammelklagesystems. Auch europäische Fonds treten in dieses Feld, doch ihre Beteiligung bleibt deutlich hinter der ihrer US-Pendants zurück. Nach der jüngsten Kursänderung der SEC ist die Beteiligung an Wertpapierklagen ein zentraler Bestandteil der Fiduciary Duty.
Viele europäische Investoren sind bereits für US-Sammelklagen (sog. Class Actions) qualifiziert. Dennoch bleibt die Teilnahme, oft aufgrund von Unsicherheit über die Anspruchsberechtigung und der prozessualen Komplexität, gering. Diese Zurückhaltung ist teuer. Laut Cornerstone Research erzielen Verfahren mit institutionellen Hauptklägern nicht nur deutlich höhere Vergleichssummen, sondern auch schnellere Abschlüsse und stärkere Verbesserungen in der Corporate Governance. Sammelklagen weisen regelmäßig höhere Erfolgsquoten auf als Einzelklagen, und wenn Institutionen als Hauptkläger auftreten, steigen die Rückflüsse für alle Mitglieder der Klägergruppe spürbar. Für europäische Asset Owner mit qualifizierenden US-Transaktionen bedeutet das Nichthandeln ebenso wie das Unterlassen einer möglicherweise angebrachten Führungsrolle, einen erheblichen Verlust an Wert und Einfluss
Beachtliche Rückflüsse
Europäische Institutionen haben bereits gezeigt, dass ihr Einfluss erheblich ist, wenn sie aktiv werden. Große Pensionsfonds aus dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden, Skandinavien und Deutschland haben in prominenten US-Verfahren als Hauptkläger agiert – mit beachtlichen Rückflüssen und Governance-Reformen, die weltweit nachwirken. Ihre Führungsrolle hat die Glaubwürdigkeit und Professionalität grenzüberschreitender Rechtsdurchsetzung gestärkt und bewiesen, dass auch ausländische Asset Owner Ergebnisse an US-Gerichten maßgeblich mitgestalten können. Mit der fortschreitenden Globalisierung der Märkte und dem Rückzug regulatorischer Schutzmechanismen in den USA erfüllen europäische Investoren, die ihre Rechte aktiv wahrnehmen, nicht nur ihre treuhänderischen Pflichten, sondern tragen auch zur Stärkung der Marktintegrität auf globaler Ebene bei.
Vor diesem Hintergrund und angesichts bestehender Beteiligungslücken sowie zunehmenden regulatorischen Gegenwinds war die Bedeutung einer robusten und entschlossenen Strategie noch nie so offensichtlich wie heute.
Politischer Kurswechsel
Über Jahrzehnte vertrat die SEC die klare Position, dass Unternehmen in ihren IPO-Unterlagen keine verpflichtenden Schiedsgerichtsklauseln aufnehmen dürfen, da sie Anlegerrechte wie Sammelklagen unterlaufen. Am 17. September 2025 änderte sich dies abrupt: In einer Abstimmung entlang der Parteilinien und ohne öffentliche Anhörung kippte die SEC ihre Anti-Schiedsgerichtspolitik. Die Änderung betrifft zwar zunächst IPOs, doch die Kommission signalisiert auch Offenheit für Klauseln in Satzungen, die alle Wertpapierbetrugsansprüche erfassen würden. Schiedsverfahren mindern Transparenz, schließen Berufungen aus, verhindern kollektives Vorgehen und schwächen die Unternehmensverantwortung. Wichtig dabei: Es handelt sich um eine politische Kursänderung, nicht um eine verbindliche Vorgabe. Praktisch bleibt die Wirkung auch begrenzt, da Delaware solche Klauseln per Gesetz seit 2025 verbietet, und die meisten US-Börsengesellschaften dort registriert sind. Daher wären nur Unternehmen außerhalb Delawares betroffen, die sich aktiv für solche Klauseln entscheiden.
Seit der Kehrtwende der SEC hat auch kein Unternehmen Schritte zur Einführung verpflichtender Schiedsgerichtsklauseln unternommen. Frühere Versuche scheiterten ebenfalls. Diese Zurückhaltung beruht auf drei Faktoren: der langjährigen Ablehnung durch die SEC, dem geschlossenen Widerstand großer institutioneller Investoren und der Erkenntnis, dass solche Klauseln ein Risiko darstellen. Eine erzwungene Schiedsgerichtsbarkeit könnte Unternehmen zehntausenden „Massenschiedsverfahren“ aussetzen. Diese sind im Vergleich zu Sammelklagen meist teurer und ineffizient. Die Class Actions bieten dagegen ein faires und effizientes Instrument zur Beilegung einer Vielzahl von Ansprüchen. Daher werden trotz der Kursänderung der SEC weiterhin starke Anlegeransprüche auf diesem Weg geltend gemacht werden.
Und private Klagen erzielen historisch weit höhere Rückflüsse als die SEC: Während der Finanzkrise beliefen sich diese auf 7,2 Mrd. US-Dollar gegenüber 1,3 Mrd. der SEC und allein 2024 waren dies 3,9 Mrd. US-Dollar gegenüber weniger als 400 Mill. der SEC. Mit sinkender SEC-Personalausstattung dürfte die Lücke weiter wachsen. Für institutionelle Investoren ist dies ein klarer Hinweis auf ihre zentrale Rolle bei der Wahrung der Marktintegrität und die fortbestehende Bedeutung von Aktionärsklagen als wirksames Korrektiv gegen Fehlverhalten der Unternehmen.
Weniger Spielraum
Die jüngsten Kursänderungen der SEC haben den Spielraum für zulässige Aktionärsanträge eingeschränkt, die Definition von „Mikromanagement“ ausgeweitet und die Compliance-Risiken für Investoren erhöht, wenn es darum geht, die Unternehmen bei ESG-Prioritäten unter Druck zu setzen. Diese Entwicklungen – verstärkt durch strengere Offenlegungspflichten für Investoren, die als „mit maßgeblichem Einfluss auf die Kontrolle“ gelten – begrenzen die traditionelle Einflussnahme. Zudem schaffen sie Informationslücken, die sich direkt auf Bewertungen auswirken. In diesem Umfeld reicht die jährliche Hauptversammlung allein nicht mehr aus, selbst für erfahrene Langfristinvestoren. Die US-Antibetrugsbestimmungen, insbesondere Rule 10b-5, bilden ein stabiles Gegengewicht: Sie unterliegen keinen politischen Zyklen und bleiben ein verlässlicher Mechanismus, um Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen, wenn Governance-Versagen, nicht offengelegte Klima- oder Cyberrisiken oder irreführende Nachhaltigkeitsangaben zu erheblichen Schäden für Anleger führen.
Wertpapierklagen haben sich damit zu einem wirkungsvollen und glaubwürdigen Instrument der treuhänderischen Aufsicht entwickelt, das eng mit europäischen Nachhaltigkeitsvorgaben unter Rahmenwerken wie der SFDR verknüpft ist. Klagen bieten einen strukturierten, durchsetzbaren Weg, um eine korrekte Offenlegung zu erzwingen, Governance-Reformen voranzutreiben und Verluste in großem Umfang auszugleichen – oft durch Vergleiche in dreistelliger Millionenhöhe. Europäische Fonds, von denen viele bereits für die Teilnahme an US-Sammelklagen qualifiziert sind, nutzen diese Verfahren zunehmend, um die Interessen ihrer Begünstigten zu schützen und gleichzeitig globale ESG-Standards zu stärken. Praktische Hürden wie Zuständigkeit, Dokumentation und Fristen lassen sich mit erfahrenen Rechtsberatern problemlos bewältigen, und das mit einer überzeugenden Kosten-Nutzen-Rechnung. In einem Umfeld, in dem aktivistische Einflussnahme neue Grenzen erfährt, ermöglicht die Kombination gezielter Engagement-Strategien mit einer proaktiven Klagepolitik den Investoren, Vermögenswerte zu sichern, Verantwortlichkeit zu stärken und Nachhaltigkeitsziele in voller Übereinstimmung mit ihrer treuhänderischen Pflicht voranzubringen.
Eine strategische Notwendigkeit
Europäische Investoren verwalten gemeinsam Billionen an globalen Vermögenswerten, und ihre Beteiligung an US-Wertpapierklagen hat eine Wirkung, die weit über den Ausgang einzelner Verfahren hinausgeht. Wenn Institutionen ihre Rechte geltend machen, sichern sie nicht nur Verluste ab, sondern heben auch globale Standards für Transparenz, Governance und Verantwortlichkeit, die letztlich Begünstigte in allen Rechtsordnungen schützen. Heute ist Klageführung nicht mehr nur ein Forum für Wiedergutmachung, sie ist ein Governance-Instrument mit weltweiter Reichweite.
Die sich wandelnde Haltung der SEC spiegelt eine grundlegende Spannung zwischen Anlegerschutz und Deregulierungsbestrebungen wider, die die Verantwortung der Asset Owner zur Wahrung der Marktintegrität weiter erhöht. In diesem Umfeld bleibt die private Rechtsdurchsetzung, insbesondere über US-Sammelklagen, der wirksamste und beständigste Mechanismus. Für europäische Investoren mit treuhänderischen Pflichten und grenzüberschreitenden Engagements ist die Nutzung dieser Rechtsmittel nicht ergänzend zur Vermögensverwaltung, sie ist zentraler Bestandteil davon.
Eine aktive, strategische Beteiligung an US-Wertpapierklagen ist daher mehr als eine defensive Reaktion auf Fehlverhalten: Sie ist eine vorausschauende Notwendigkeit, die Märkte stärkt, ESG-Erwartungen vorantreibt und sicherstellt, dass Investoren – und nicht wechselnde regulatorische Strömungen – die Standards für Unternehmensverantwortung definieren.
*) Domenico Minerva und Jamie Hanley sind Partner bei Labaton Keller Sucharow LLP.
