Digitalisierung des Kapitalmarkts: Der europäische Rechtsrahmen im Umbruch
Digitaler Kapitalmarkt: Rechtsrahmen im Umbruch
Europa will den Weg für digitale Wertpapiere ebnen – doch der regulatorische Rahmen bleibt komplex und voller Hürden
Von Patrick Scholl und Marcel Hörauf*)
*) Dr. Patrick Scholl und Marcel Hörauf, Partner der internationalen Wirtschaftskanzlei Mayer Brown LLP
Der europäische Kapitalmarkt dürstet nach Modernisierung auf dem unvermeidbaren Weg der Digitalisierung. Weltweit lassen sich entsprechende Entwicklungen feststellen, v.a. in den USA, wo sog. DLT-Bonds (Kryptowertpapiere) und für Zahlungen relevante währungsreferenzierende Token (Stablecoins) zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Der Modernisierungsdruck auf den europäischen Kapitalmarkt ist hoch, wenn Europa den Anschluss nicht verlieren will. In Deutschland wurde mit der Einführung von elektronischen Wertpapieren und deren Gleichstellung mit traditionellen, in Urkunden verbrieften Wertpapieren bereits ein Musterbeispiel für einen innovativen und rechtssicheren Ansatz zur Kreierung digitaler Finanzinstrumente geschaffen.
Regeln hinken hinterher
Allerdings hinken die europaweit geltenden, die Marktinfrastruktur formenden Finanzmarktregeln hinterher. Vor allem Kryptowertpapiere können mangels gesetzlicher Zuschreibung der Girosammelverwahrfähigkeit nicht auf regulierten Märkten gehandelt oder als zentralbankfähige Sicherheiten verwendet werden. Im Zuge einer Modernisierung der europäischen Kapitalmarktinfrastruktur hat die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) mit ihrem Bericht zur Funktionsweise und Überprüfung der DLT-Pilot-Regime vom 26. Juni 2025 wesentliche Änderungen an dem seit März 2023 geltenden DLT-Pilot Regime vorgeschlagen. Sie hat damit auf Kritik der Branche reagiert, dass der derzeitige Rahmen für digitale Wertpapierplattformen zu restriktiv sei.
Europäische Regelung
Bei dem DLT-Pilot-Regime handelt es sich um eine neue europäische Regelung für Distributed-Ledger-Technologie (DLT) basierende Marktinfrastrukturen. Das DLT-Pilot-Regime schafft europaweit den rechtlichen Rahmen für den Handel und die Abwicklung von Transaktionen mit DLT-Instrumenten, die als Finanzinstrumente im Sinne der zweiten europäischen Marktinfrastruktur-Richtlinie (MiFID II) gelten, und erleichtert die Einrichtung neuer Arten von Handelsplattformen und Abwicklungssystemen. Diesen ermöglicht es beim Handel und der Abwicklung tokenisierter Wertpapiere Ausnahmen von einzelnen, für den Handel auf Basis von DLT besonders hinderlich empfundene Vorschriften der MiFID II sowie der europäischen Zentralverwahrer-Verordnung (CSDR) zu erhalten.
Barausgleich in E-Geld-Token
Ein Beispiel hierfür ist zum einen die Abwicklung von DLT-Transaktionen ohne Zentralbank oder Geschäftsbankgeld, wie bislang in der CSRD vorgesehen, um Zentralverwahrern die Möglichkeit zu geben, innovative Lösungen zu entwickeln. Dies könnte etwa die Verwendung von „E-Geld-Token“ zur Zahlungsabwicklung betreffen.
Zwischenlösungen im Rahmen der sog. EZB-Trials mit DLT-basierten wertpapierrechtlichen Übertragungen und Zahlungsabwicklung über das Eurozahlungssystem (T2) durch die DLT-basierte Trigger-Solution der Bundesbank zeigten sich bereits als erfolgreich. Eine direkte DLT-basierende Zahlungsabwicklung beispielsweise mit einem digitalen Euro ist gleichwohl der notwendige nächste Schritt.
Abkehr von der „Vermittlerpflicht“
Ein weiteres Beispiel betrifft die Möglichkeit des direkten Zugangs zu Handelsplätzen für Kleinanleger. Hierbei handelt es sich um ein „Systembruch“ im europäischen Aufsichtsrecht, dass sonst im Rahmen des Zugangs zu Handelsplätzen stets die Einbeziehung eines Intermediärs in Form eines Kreditinstituts oder einer Wertpapierfirma (oder anderer entsprechend geeigneter Person) verlangt – sog. „Vermittlungspflicht“. Diese wurde als Hürde für eine schnelle Fortentwicklung der DLT-Märkte empfunden, gerade in der Anfangsphase. Schließlich wird mit dem bisherigen Grundsatz der europäischen Finanzmarktregulierung gebrochen, wonach Handel, Clearing und Abwicklung stets getrennt voneinander erfolgen. Durch den Einsatz von DLT, bei der sämtliche Transaktionen in einem Distributed Ledger erfasst werden, können Handel und Abwicklung auf nahezu Echtzeit beschleunigt und kombiniert werden. Das macht auch die Zusammenlegung von Handels- und Nachhandelsdienstleistungen möglich.
Der Anwendungsbereich des DLT-Pilot-Regime beschränkt sich auf (i) Aktien, deren Emittent eine Marktkapitalisierung oder eine voraussichtliche Marktkapitalisierung von weniger als 500 Mio. EUR aufweist, (ii) Anleihen, andere verbriefter Schuldtitel und Geldmarktinstrumente mit einem Emissionsvolumen von weniger als 1 Mrd. EUR (unter Ausschluss bestimmter komplexer Produkte sowie kleinerer Anleihen), sowie (iii) Anteile an Publikumsfonds (UCITS) mit einem Marktwert der verwalteten Vermögenswerte von weniger als 500 Mio. EUR.
Das DLT-Pilot-Regime hat von vorneherein nur vorübergehenden Charakter (sechs Jahre); Ausnahmen werden nur befristet gewährt und Antragsteller müssen eine Ausstiegsstrategie vorweisen können, sollte das Regime nicht verlängert oder eingestellt werden.
Wenige Genehmigungen
Seit der Einführung haben nur weniger als eine Handvoll Unternehmen eine Genehmigung unter dem DLT-Pilot-Regime erhalten: CSD Prague für die Abwicklung, 360X AG aus Deutschland für den Handel und die deutsche 21X AG sowie die litauische UAB Axiology DLT für den Handel und die Abwicklung. Welche Schwachstellen und welche Lösungsansätze bietet die ESMA?
Mehr Attraktivität
Die Vorschläge der ESMA konzentrieren sich darauf, das System für die Teilnehmer attraktiver zu gestalten. Dabei identifiziert die ESMA die mangelnde Interoperabilität mit der bestehenden Marktinfrastruktur als ein wesentliches Hindernis für eine breitere Einführung der DLT. Die Änderungsvorschläge erfolgen zu einem Wendepunkt des DLT-Pilot-Regimes, das nun auf wachsendes Interesse potenzieller Antragsteller zu stoßen scheint.
Um diese Dynamik zu nutzen, schlägt die ESMA vor allem folgende Punkte vor:
- Streichung der derzeitige Sechsjahresfrist, nach der Plattformen ihren Betrieb schließlich einstellen müssen.
- Anpassung der restriktiven Schwellenwerte für Emissionen und Marktkapitalisierung, vergleichbar dem britischen Pendant zum DLT-Pilot-Regime, der Digital-Securities-Sandbox, um durch Skaleneffekte mehr Aktivitäten zu fördern, den Betrieb wirtschaftlich rentabel machen zu und tiefere, liquideren Märkte zu schaffen.
- Erweiterung der zulässigen Instrumente, denn DLT ist aufgrund der Fraktionierungsmöglichkeiten durch Token auch für Private-Equity und alternative Investmentfonds (AIF) geeignet, die bislang i.d.R. größere Investitionsvolumina erfordern.
- Abwicklung von Geschäften auch in Stablecoins und E-Geld-Token alternativ zu Zentralbank- und Geschäftsbankgeld.
Die von der ESMA vorgeschlagenen Maßnahmen sind begrüßenswert. Werden sie umgesetzt, schafft dies Rechtssicherheit und Anreize für längerfristige Investitionen der Marktteilnehmer in DLT-basierte Anwendungen. Selbst wenn der Schritt der DLT-Pilot-Regimes von der Experimentierphase hin zum dauerhaften rechtlichen Rahmen gelingt, werden damit weitere wesentliche Problemfelder auf dem Weg zum „digitalen Kapitalmarkt“ nicht ins Auge gefasst: So bleibt es bei der mangelnden Interoperabilität des DLT-Pilot-Regimes mit der „klassischen“ Marktinfrastruktur, die Handel, Clearing und Abwicklung trennt.
Dies wiederum begrenzt die Möglichkeit von Innovation. Auch fehlt ein klarer Weg hin zur bislang fehlenden traditionellen Börsenfähigkeit von DLT-Instrumenten, die Anbindung von DLT-basierten Abwicklungslösungen an das von der EZB betriebene T2-System sowie die nicht gegebene EZB-fähigkeit von DLT-Instrumenten als Sicherheit im Rahmen der Offenmarkt- und Kreditgeschäfte. Nur so können Aktien und Anleihen in der Form von Kryptowertpapieren wettbewerbsfähig werden. Diese Voraussetzungen können langfristig ausschließlich durch einheitliche und technologieagnostische regulatorische Rahmenbedingungen gelöst werden.
Die Europäische Kommission wird auf Grundlage des ESMA-Berichts wohl innerhalb der nächsten Wochen ihren eigenen Bericht an das EU-Parlament und den Rat vorlegen. Abhängig von den Empfehlungen der Kommission könnte die DLT-Pilot-Regime dann verlängert, geändert oder sogar auch in eine dauerhafte Regelung umgewandelt werden. Bis hin zum europäischen „digitalen Kapitalmarkt“ werden jedoch wie aufgezeigt weitere umfassende Maßnahmen nötig sein.
Nächste Schritte
*)Dr. Patrick Scholl und Marcel Hörauf sind Partner der internationalen Wirtschaftskanzlei Mayer Brown LLP