GastbeitragNachhaltigkeitsstrategie

ESG: Wenn der Aufsichtsrat als Strategieberater und Kommunikator gefordert ist

ESG fordert den Aufsichtsrat als strategischen Berater und Kommunikator heraus. In Zeiten dynamischer Veränderungen ist vorausschauende Strategieentwicklung entscheidend.

ESG: Wenn der Aufsichtsrat als Strategieberater und Kommunikator gefordert ist

Die aktuelle geopolitische Situation und die Dynamik des wirtschaftlichen Umfelds in den globalen Waren- und Kapitalströmen verlangen von international agierenden Unternehmen mehr denn je Agilität in der strategischen Unternehmensführung. Daneben verändern die Digitalisierung und technologische Fortschritte der künstlichen Intelligenz in rasanter Geschwindigkeit klassische Geschäftsmodelle und bieten gleichsam Chancen für Innovation. Aber auch regulatorische Entwicklungen sind ein stetiger Treiber dafür geworden, dass Unternehmen ihre strategische Ausrichtung in immer kürzerer Frequenz hinterfragen und anpassen müssen.

Aufsichtsrat als zunehmend wichtiger Sparringspartner in Strategiefragen

In diesem Umfeld ist die nachhaltige Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und des langfristigen Unternehmenserfolgs Kern der Leitungsaufgabe des Vorstands. Der Vorstand hat eine Strategie zu entwickeln, diese später in Planungen und Maßnahmen umzusetzen und gegenüber den Stakeholdern zu kommunizieren. Aufgabe des Aufsichtsrats ist es, die Entwicklung der Strategie beratend zu begleiten und ihre Umsetzung zu kontrollieren. In der Praxis verschieben die hohe Dynamik des unternehmerischen Umfelds und der damit einhergehenden Neuausrichtung der Unternehmenstätigkeit die Bedeutung der Rolle des Aufsichtsrats immer mehr in die Richtung eines zukunftsorientierten Sparringpartners, der den Vorstand in Strategiefragen vorausschauend berät, hinterfragt, fördert und fordert. In diesem Sinne hatte zuletzt auch die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex in einem Praxisimpuls die Rollenerwartung an den Aufsichtsrat konturiert. Zugleich erwarten Investoren und andere Stakeholder, dass der Aufsichtsrat zu Themen, die in seine Zuständigkeit fallen, auch nach außen kommuniziert.

Der Bereich ESG ist beispielgebend für die notwendige, frühzeitige Einbindung des Aufsichtsrats in die (Weiter-)Entwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie für das Unternehmen. Denn der Aufsichtsrat muss insbesondere die aus der Nachhaltigkeitsstrategie abgeleiteten ESG-Ziele in das System der Vorstandsvergütung einflechten, um mit geeigneten Leistungskriterien die Umsetzung der Strategie zu fördern. Ein frühzeitiger und regelmäßiger Dialog zwischen den Gremien über die (Neu-)Ausrichtung der Strategie und den Fortschritt ihrer Umsetzung ist daher in ESG-Fragen besonders wichtig. Damit ist zugleich die Funktion vorgezeichnet, die der Aufsichtsrat im Umgang mit der aktuellen Diskussion zum ESG-Backlash in der Praxis einnehmen sollte.

ESG-Backlash und Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsstrategie

Der Druck auf Regulierungen im Bereich ESG hat in den USA, dem wichtigsten deutschen Handelspartner, Europa und Deutschland zuletzt zugenommen. Diese Entwicklung bezieht sich auf nahezu alle ESG-relevanten Bereiche wie z.B. den Umweltschutz, das Bemühen um Lieferketten frei von Menschenrechtsverletzungen oder auch Themen, die mit dem Begriff DEI („diversity, equity, inclusion“) umschrieben werden. Die in der Diskussion vertretenen Positionen stehen sich oft unversöhnlich gegenüber: Für die einen steht ESG als Sinnbild für überbordende Bürokratie, als Fessel für die wirtschaftliche Entwicklung. Die andere Gruppe sieht die ESG-Regulatorik als Chance und notwendigen Treiber einer zwingend erforderlichen nachhaltigen Transformation der Wirtschaft und der Unternehmen.

Unabhängig von der Regulatorik bleiben die durch ESG adressierten Themen für Unternehmen relevant: Der Klimawandel beispielsweise beeinflusst Produktionsmöglichkeiten und Absatzmärkte, Menschenrechtsverletzungen in den Lieferketten, die der Konzernmutter zugerechnet werden, gefährden die Reputation der gesamten Unternehmensgruppe und können schon jetzt zu Schadensersatzansprüchen führen. Zudem zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse, dass divers zusammengesetzte Teams effektiver und erfolgreicher arbeiten.

Diese Gemengelage stellt Vorstand und Aufsichtsrat vor besondere Herausforderungen. Ein erster Schritt ist zunächst die Ermittlung der jeweils geltenden Rechtslage, die Leitplanken für die Weiterentwicklung der ESG-Strategie setzt. Denn die (ausländischen) Tochterunternehmen einer deutschen Muttergesellschaft sind im Grundsatz verpflichtet, nationales Recht einzuhalten. Dies ist kein neues Phänomen, wird aber durch die Entwicklung in den USA erschwert: Verstärkt werden Normen durch Dekrete und nicht im hergebrachten Gesetzgebungsprozess gesetzt und in den sozialen Medien verkündet. Hinzu kommt, dass die USA die Befolgung ihrer Vorstellungen auch mit der Erteilung von Zustimmungen verbinden, die nicht unmittelbar mit dem Gegenstand der Regulierung zusammenhängen: So werden kartellrechtliche Genehmigungen von der Befolgung der Vorstellungen der amtierenden Regierung zum Thema DEI aus der Executive Order „Ending Illegal Discrimination And Restoring Merit-Based Opportunity“ abhängig gemacht.

Kommen Vorstand und Aufsichtsrat zu dem Schluss, dass es nicht rechtlich verpflichtend ist, die Order zu befolgen, stehen weitere Maßnahmen in ihrem pflichtgemäßen unternehmerischen Ermessen.

Dabei haben sie im Wesentlichen vier Optionen zur Reaktion: Sie können erstens freiwillige DEI-Richtlinien und -Maßnahmen weltweit einstellen und die Unternehmenskommunikation und Nachhaltigkeitsberichterstattung auf das gesetzliche Minimum beschränken; sie stehen zweitens weiter für die DEI-Werte des Unternehmens und ihre Richtlinien im globalen Konzern ein, wobei sie nur für die USA Ausnahmen bilden, sofern und soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist; sie behalten drittens die DEI-Strategie des Unternehmens bei und greifen belastende Maßnahmen von US-Behörden vor den US-Gerichten an; sie behalten viertens ihre DEI/ESG-Strategie bei, schwächen aber die externe Unternehmenskommunikation dazu ab, soweit dies rechtlich möglich ist und nicht als unzulässige Umgehung angesehen wird.

In den folgenden Schritten der Anpassung einer Nachhaltigkeitsstrategie an sich veränderte regulatorische Rahmenbedingungen haben Vorstand und der Aufsichtsrat als Sparringspartner unter anderem folgende Aspekte zu erwägen: die Auswirkungen der ESG-Belange, insbesondere des Klimawandels, auf das Geschäftsmodell (Stichwort: Resilienz), die Bedeutung der Produkte oder Dienstleistungen für die Transformation der Wirtschaft im Bereich Nachhaltigkeit (Stichwort: Wettbewerbsvorteil, Geschäftschancen), die Bedeutung von ESG-Themen für die Reputation des Unternehmens als wirtschaftlicher Wert, mögliche Schadensersatzrisiken durch Menschenrechtsverletzungen (insbesondere aufgrund von Aktivitäten im englischen Rechtskreis), und schließlich die Bedeutung der Nachhaltigkeitsstrategie für die Stakeholder des Unternehmens.

Im Zuge dieser Optionen hat der Aufsichtsrat jeweils auch zu prüfen, ob etwa auch inhaltliche oder sprachliche Anpassungen des (öffentlich zugänglichen) Vorstandsvergütungssystems notwendig werden, soweit dieses entsprechend konkret die Umsetzung bestimmter DEI/ESG-Maßnahmen durch den Vorstand incentiviert. Da viele Unternehmen in diesem Jahr das Vorstandsvergütungssystem turnusgemäß vier Jahre nach erstmaliger Befassung der Hauptversammlung zur Billigung vorlegen mussten, hatten sich bereits in der Vorbereitung dieser Hauptversammlungssaison Aufsichtsräte mit dieser Frage (meist sehr kurzfristig) zu befassen und auch Stellung zu nehmen.

ESG-Kommunikation mit einer Stimme

Haben Vorstand und Aufsichtsrat die Nachhaltigkeitsstrategie in dem aktuellen regulatorischen Umfeld weiterentwickelt, kann vorteilhaft sein, den Aufsichtsrat in die Kommunikation gegenüber Investoren und sonstigen Stakeholdern einzubinden. Die Kommunikationsbefugnis des Aufsichtsratsvorsitzenden dazu ist rechtlich weitgehend anerkannt.

Der Aufsichtsrat darf grundsätzlich nach außen kommunizieren, wenn und soweit aufsichtsratsspezifische Themen betroffen sind (communication follows competence). Viele Aufsichtsratsvorsitzende führen daher Gespräche insbesondere mit Investoren, aber auch mit Medien oder Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft, wodurch Vertrauen bei den Stakeholdern hergestellt werden kann. Insbesondere in Strategiefragen, die in die primäre Zuständigkeit des Vorstands fallen, stärkt eine flankierende Kommunikation des Aufsichtsrats dem Vorstand aber nur dann den Rücken, wenn der Aufsichtsrat durch eine gemeinsame oder jedenfalls abgestimmte Kommunikation im Unternehmensinteresse sicherstellt, dass beide Organe mit einer Stimme sprechen.

*) Dr. Ralph Schilha und Dr. Ingo Theusinger sind Partner der Kanzlei Noerr.