Bei Fusionen droht kartellrechtliche Ansteckungsgefahr
Von Christian Steinle *)Wer ein Unternehmen erwirbt, denkt beim Stichwort “Kartellrechtsrisiko” zuallererst (und mit Recht) an die Notwendigkeit kartellbehördlicher Genehmigungen des Deals. Vielfach unterschätzt wird ein zweites kartellrechtliches Risiko, das den Erwerber teuer zu stehen kommen kann, nämlich die Bußgeldhaftung für vergangene Kartellverstöße. War der Veräußerer oder das erworbene Unternehmen selbst vor der Übernahme an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen beteiligt, läuft der ahnungslose Erwerber unter Umständen Gefahr, dass gegen ihn eine millionenschwere Geldbuße verhängt wird, obwohl er den Verstoß weder begangen noch davon profitiert hat.Besonders groß ist diese Gefahr beim Unternehmenskauf aus der Insolvenz. Ungemach droht dem Erwerber dabei weniger vom Bundeskartellamt als von der EU-Kommission. Letztere kann bei Kartellverstößen Geldbußen bis zu 10 % des Unternehmensumsatzes verhängen. Zwar gilt im europäischen Wettbewerbsrecht die Regel, dass grundsätzlich diejenige (juristische) Person für einen Kartellverstoß einstehen muss, die das “Täterunternehmen” zum Tatzeitpunkt leitete. Das bedeutet, dass sich ein “Kartelltäter” nicht dadurch seiner Verantwortung für die Vergangenheit entledigen kann, dass er den betreffenden Geschäftsbereich veräußert. Der Veräußerer haftet für den von ihm begangenen Kartellverstoß, solange er existiert. Der Erwerber soll grundsätzlich auch dann nicht für die vor dem Erwerb begangene Zuwiderhandlung des Veräußerers büßen müssen, wenn er Kenntnis von ihr hatte. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lässt jedoch mehrere Ausnahmen von diesem (Schuld-)Prinzip zu.Gefährlich wird es für den Erwerber zunächst dann, wenn er mit dem “Täterunternehmen” durch Verschmelzung fusioniert. Hierdurch geht die Bußgeldhaftung vollumfänglich auf die fusionierte Einheit und damit auf den Erwerber über. Schlimmer noch: Da das fusionierte Unternehmen deutlich umsatzstärker als das frühere “Täterunternehmen” ist, führt die Verschmelzung zu einer massiven Erhöhung des umsatzbezogenen Bußgeldrahmens. Dieser bemisst sich nicht nach dem im Kartellzeitraum erzielten Umsatz des “Täterunternehmens”, sondern nach dem im letzten Geschäftsjahr vor Erlass der Bußgeldentscheidung erzielten Umsatz des fusionierten Unternehmens. “Abschreckungszuschlag”Außerdem läuft das fusionierte Unternehmen Gefahr, dass die EU-Kommission gemäß ihren Bußgeldleitlinien die Geldbuße unter Hinweis auf die gestiegene Unternehmensgröße verdoppelt oder gar verdreifacht. Der EU-Kommission steht es frei, ob und um welchen Faktor sie die Geldbuße erhöht. Erfahrungsgemäß droht ein solcher “Abschreckungszuschlag” Unternehmen ab einem Jahresumsatz von 10 Mrd. Euro. Dass das fusionierte Unternehmen zum Tatzeitpunkt noch gar nicht in seiner heutigen Größe existierte, soll für den “Abschreckungszuschlag” ebenso unerheblich sein wie die zwischenzeitliche Einführung eines Kartellrechts-Compliance-Programms.Auch bei der bloßen Beteiligung an einem anderen Unternehmen ist seit neuestem Vorsicht geboten. In seinem zum Zement-Kartell ergangenen Urteil “Aalborg Portland” entschied der EuGH, dass ein neugegründetes Gemeinschaftsunternehmen für den Kartellverstoß seiner 50-prozentigen Muttergesellschaft haftet, wenn diese die an dem Kartellverstoß beteiligte Aktiva später auf das Gemeinschaftsunternehmen überträgt. Die Richter begründeten dies mit der “wirtschaftlichen Kontinuität” zwischen dem Gemeinschaftsunternehmen und seiner 50-prozentigen Muttergesellschaft. Dass Letztere rechtlich weiterhin existiere, sei unerheblich. Entscheidend sei vielmehr die “strukturelle Verbindung” zwischen Mutter und Tochter. Leidtragender dieser kritikwürdigen Entscheidung ist die andere 50-prozentige Mutter des Gemeinschaftsunternehmens. Obwohl sie mit dem Kartellverstoß ihres Joint-Venture-Partners nicht das Geringste zu tun hat, haftet sie für diesen indirekt mit. Wer sich an einem Gemeinschaftsunternehmen beteiligt, muss zukünftig noch sorgfältiger darauf achten, dass sein Kooperationspartner keine kartellrechtlich “infizierten” Assets in das Gemeinschaftsunternehmen einbringt. Wenn möglich, sollte er auf einem Freistellungsanspruch des Gemeinschaftsunternehmens gegenüber seiner Muttergesellschaft bestehen, um nicht für deren kartellrechtliche “Altlasten” mithaften zu müssen.Allergrößte Vorsicht ist schließlich bei einem Unternehmenskauf aus der Insolvenz geboten. Hat das wirtschaftlich angeschlagene “Täterunternehmen” die wesentlichen an dem Kartellverstoß beteiligten “materiellen und personellen Faktoren” veräußert und seine wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt, kann der Erwerber als wirtschaftlicher Nachfolger für den Kartellverstoß verantwortlich gemacht werden, selbst wenn der Veräußerer rechtlich fortbesteht. Dies entschied das Europäische Gericht erster Instanz im Fall Neue Maxhütte. Die Luxemburger Richter begründeten dies (wie so oft) damit, dass anderenfalls die “praktische Wirksamkeit” des europäischen Wettbewerbsrechts gefährdet würde. In dem entschiedenen Fall hatte die Erwerberin als Auffanggesellschaft das zur Herstellung des kartellierten Produkts (Stahlträger) notwendige Anlagevermögen von dem insolventen “Täterunternehmen” übernommen und den Betriebsteil mit einem Teil der Arbeitnehmerschaft fortgeführt.Was für die EU-Kommission ein “Geschenk des Himmels” ist, bedeutet für einen unschuldigen Erwerber ein erhebliches finanzielles Risiko, gegen das er sich nur schwer absichern kann. Ein Regressanspruch gegen den insolventen Veräußerer dürfte in der Regel wirtschaftlich wertlos sein. Zwar verjährt die Befugnis der EU-Kommission zur Verhängung von Geldbußen fünf Jahre nach Beendigung der Zuwiderhandlung. Die Verjährung kann jedoch unterbrochen sein, ohne dass der Erwerber hiervon Kenntnis hat. Grund ist, dass jede Ermittlungsmaßnahme der EU-Kommission die Verjährung gegenüber allen an dem Kartell beteiligten Unternehmen unterbricht, selbst wenn sich die Maßnahme (z. B. ein Auskunftsverlangen) nur gegen eines von ihnen richtet. Nach jeder Unterbrechung beginnt die Verjährungsfrist von neuem zu laufen. Völlig sicher vor einer Geldbuße darf sich der Erwerber erst zehn Jahre nach Beendigung des Kartells wähnen. Dann ist die absolute Verjährungsfrist abgelaufen.Daraus folgt, dass bei der Due Diligence besonders sorgfältig geprüft werden muss, ob das erworbene Unternehmen früher an Kartellverstößen beteiligt war. Falls möglich, sollte der Erwerber insoweit auf einer Haftungsfreistellung für Geldbußen, Schadenersatzzahlungen und Anwaltskosten bestehen. In der Regel ist dies jedoch nicht durchsetzbar. Häufig hat der Veräußerer nicht einmal selbst Kenntnis von dem Kartellverstoß. Dem Erwerber ist deshalb zu raten, das erworbene Unternehmen so bald wie möglich auf eigene Kosten einem gründlichen Kartellrechts-Check zu unterziehen, um die Risiken abschätzen zu können. Dies gilt insbesondere in kartellrechtlich einschlägig bekannten Branchen wie der Chemie oder der Bau- und Grundstoffindustrie. So lange sollte das erworbene Unternehmen als separate Tochtergesellschaft unter Belassung ihrer Vermögenswerte geführt werden. Gegebenenfalls empfiehlt sich eine Selbstanzeige des Kartellverstoßes bei der EU-Kommission, um Straffreiheit im Rahmen der Kronzeugenregelung zu erlangen. Kooperation nötigBei der Sachverhaltsaufklärung ist der Erwerber auf die Kooperation der am Kartellverstoß beteiligten Mitarbeiter angewiesen. Erfahrungsgemäß werden diese hierzu nur dann bereit sein, wenn sie keine persönlichen Nachteile befürchten müssen. Der Erwerber sollte sich daher zu einer entsprechenden Zusicherung durchringen und diese auch einhalten, so verständlich sein Wunsch auch ist, die (häufig langjährigen) “Kartellanten” unter seinen Mitarbeitern möglichst schnell loszuwerden. Die Abwendung einer millionenschweren Geldbuße sollte ihm dieses Zugeständnis allemal wert sein, zumal die involvierten Mitarbeiter zumeist geglaubt haben, im (vermeintlichen) Interesse des Unternehmens zu handeln.*) Dr. Christian Steinle ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Gleiss Lutz in Stuttgart.