Kapitalanleger-Musterverfahren muss kein Alptraum sein
Von Ingrid Andres *) Hohe Rendite und Steuervorteile – das erhoffen sich Anleger von Kapitalanlagen. Doch was, wenn der gewünschte Erfolg nicht eintritt? Die Abwälzung dieses Risikos auf die Anbieter von Kapitalanlagen wurde bisher erschwert. Die gerichtliche Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen forderte von dem Anleger einen erheblichen, nicht erstattungsfähigen Aufwand und die Inkaufnahme hoher Prozessrisiken und Prozesskosten. Von der Justiz forderte sie die prozessuale Bewältigung von Masseverfahren mit vielen Geschädigten und vergleichsweise geringen Schadenersatzsummen. Besonders bewusst wurde dies dem Gesetzgeber aufgrund der Klage Tausender Aktionäre gegen die Telekom.Besserung soll das am 1. November 2005 in Kraft getretene Gesetz zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren (KapMuG) bringen. Die Durchführung eines Musterverfahrens soll unter anderem die Barriere für die prozessuale Verfolgung von Ansprüchen herabsetzen, das Kostenrisiko reduzieren und die sogenannten Streuverluste verringern. Doch müssen die anbietenden Unternehmen nun eine noch höhere Klagebereitschaft der Anleger und eine Flut von Klagen fürchten? Soweit sich Anleger und ihre Anwälte entsprechende Hoffnungen machten, dürften diese durch die Ausgestaltung des Musterverfahrens im Einzelnen enttäuscht worden sein.Denn nach der Konzeption des KapMuG ändert sich nichts daran, dass jeder einzelne Anleger seine Ansprüche gesondert gerichtlich geltend machen muss. Anstatt alle Klagen einzeln zu verhandeln, soll aber in einem Musterverfahren vorab verbindlich das Vorliegen einer in mehreren Prozessen anspruchsrelevanten tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzung entschieden werden. Die Durchführung des Musterverfahrens kann insbesondere bei Klagen auf Schadenersatz beantragt werden, wenn die Gesellschaft, etwa im Börsenprospekt, relevante Kapitalmarktinformationen nicht veröffentlicht oder falsche oder irreführende verbreitet hat. Das Prozessgericht macht den Musterfeststellungsantrag in einem neuen Klageregister im elektronischen Bundesanzeiger bekannt. Werden innerhalb von vier Monaten in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt, holt das Prozessgericht einen sogenannten Musterentscheid des übergeordneten Oberlandesgerichts ein. Keine Entlastung vom RisikoGanz bewusst hat sich der Gesetzgeber gegen den Vorschlag der Anleger-Anwaltschaft entschieden, ein an die amerikanische “class action” angelehntes Anmeldesystem zu übernehmen. Nach diesem reicht es aus, dass die Anleger ihre Anspruchssumme und ihre Wertpapiererwerbsdaten bei Gericht anmelden. Einer solch weitgehenden Privilegierung der Anleger steht in Deutschland das Grundgesetz entgegen. Danach darf eine gerichtliche Entscheidung, auf die der Anleger keinen Einfluss nehmen konnte, für diesen nicht bindend wirken. Die Klagebereitschaft dürfte sich schon deshalb nicht erhöhen, weil das KapMuG den Anlegern nicht das Prozessrisiko nimmt. Die Anleger müssen nach wie vor ihre Ansprüche selbständig einklagen, darlegen, den Gerichtskostenvorschuss einzahlen und ihre Anwälte vergüten. Das Musterverfahren ist lediglich ein Zwischenverfahren, in dem das Oberlandesgericht nach Bestimmung eines Musterklägers über die Musterfrage entscheidet. Währenddessen werden die Individualrechtsstreite ausgesetzt. Den Anlegern steht dagegen kein Rechtsmittel zu. Sie gelten als beigeladen. Wollen sie das Musterverfahren beeinflussen, müssen sie sich aktiv beteiligen, Schriftsätze einreichen etc. Anderenfalls können sie sich in ihrem Individualprozess nicht darauf berufen, dass das Musterverfahren mangelhaft geführt worden sei. Will ein Anleger diese Risiken vermeiden, muss er den Ausgang des Musterverfahrens abwarten und erst dann seine Klage einreichen. Ein derartiges Abwarten sollte aber gut überlegt sein, da der Musterentscheid keine rechtliche, sondern nur eine faktische Bindungswirkung entfaltet. Dem Unternehmen ist daher zu raten, neuen Vortrag gegen die Richtigkeit des Musterentscheids und Argumente für die verspätete Darlegung parat zu haben. Darüber hinaus sollte auf die im Kapitalmarktrecht geltenden kurzen Verjährungsfristen geachtet werden.Einer Ausweitung der Klageflut steht der beschränkte Anwendungsbereich des KapMuG entgegen. Das Problem von Anlegerklagen liegt oft nicht allein in der Frage der Richtigkeit der Kapitalmarktinformation, sondern auch des individuellen Schadenseintritts und des Zusammenhangs zwischen unrichtiger Information und Schaden. Derartige Schadens- und Kausalitätsfragen sind jedoch nicht Gegenstand des Musterverfahrens, sondern wie bisher vom jeweiligen Kläger im individuellen Prozess zu beweisen. Es ist dann am Unternehmen, den Schadenseintritt und den Kausalzusammenhang anhand der konkreten Anlagestrategie, des Zeitrahmens etc. zu widerlegen. In die Länge ziehenDer Musterfeststellungsantrag ist als oft gesuchtes Mittel, das Verfahren in die Länge zu ziehen, nicht geeignet. Dieses Ziel ist insbesondere in Prospekthaftungsfällen zu beobachten, wenn die Anleger Strafanzeige stellen, um die Staatsanwaltschaft als Amtsermittler zu missbrauchen und durch die spätere Einsicht in deren Akten neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das Unternehmen hat zu beachten, dass ein Musterfeststellungsantrag unzulässig ist, wenn dieser zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt wird oder der zugrunde liegende Rechtsstreit bereits entscheidungsreif ist.Auch müssen die Anleger einkalkulieren, dass die Vorteile des KapMuG nicht nur ihnen zugute kommen. So ist auch das beklagte Unternehmen berechtigt, den Musterfeststellungsantrag zu stellen und etwa feststellen zu lassen, dass der streitgegenständliche Prospekt fehlerfrei ist. Der lobend hervorgehobene Verzicht auf den Kostenvorschuss für anfallende Sachverständigengutachten gilt auch für das Unternehmen.Auch die als besonderer Klageanreiz gedachte Kostenfreiheit des erstinstanzlichen Musterverfahrens dürfte die Anleger und ihre Anwälte kaum in Euphorie versetzen. Die Bereitschaft der Anwälte, als Musterklägervertreter zu agieren, wird schon dadurch erheblich gedämpft, dass damit keine gesonderte Vergütung verbunden ist. Obwohl der Musterverfahrensanwalt einen deutlich höheren Arbeits-, Koordinierungs- und damit auch Kostenaufwand hat, richtet sich seine gesetzliche Vergütung nur nach der Höhe des von seinem Mandanten geltend gemachten Anspruchs. Auf eine Honorarvereinbarung zum Ausgleich des Mehraufwandes werden sich Kleinanleger kaum einlassen, weil sie so das Verfahren für alle anderen Parallelkläger finanzieren würden. Die für den Fall des Unterliegens gepriesene anteilige Aufteilung der Kosten des Musterverfahrens im Verhältnis der geltend gemachten Ansprüche dürfte die Klagebereitschaft derjenigen Anleger bremsen, die auf schnelles Geld durch einen Vergleich hoffen. Nehmen sie ihre Klage nicht innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung des Aussetzungsbeschlusses zurück, können sie sich dieser Kostenlast nicht mehr entledigen. Ähnlich dürfte die Klageerhebung für diejenigen erschwert werden, die sich nicht nur auf musterverfahrensrelevante Ansprüche stützen. Ist das Musterverfahren erfolglos, haben sie die Kosten auch dann zu tragen, wenn ihr darüber hinausgehender Vortrag Erfolg hat. Gute NachrichtFür Unternehmen eine gute Nachricht: Auch wenn das KapMuG zumindest im Ansatz die Durchsetzung von Ansprüchen erleichtert und die Justiz entlastet, dürfte es die Klagebereitschaft der Anleger kaum erhöhen und nicht zu Klagefluten gegen Unternehmen führen. Diese werden wie bisher gut beraten sein, sich mit den von den Anlegern geltend gemachten individuellen Ansprüchen im Einzelnen auseinander zu setzen und darüber hinaus eingehend zu prüfen, ob sie dem “Massesyndrom” nicht ihrerseits durch die Einleitung eines Musterverfahrens entgegenwirken sollten. Eine Strategie, die sich lohnen kann. *) Dr. Ingrid Andres ist Rechtsanwältin im Frankfurter Büro der internationalen Sozietät Lovells.