FINANZRISIKEN

Sehen und fürchten

Na also! Politik, Aufsicht und Finanzbranche haben ihre Lektion gelernt. Weil in der Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt nicht nur Banken, sondern ganze Volkswirtschaften am Abgrund standen, war jedem Verantwortlichen klar, dass das...

Sehen und fürchten

Na also! Politik, Aufsicht und Finanzbranche haben ihre Lektion gelernt. Weil in der Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt nicht nur Banken, sondern ganze Volkswirtschaften am Abgrund standen, war jedem Verantwortlichen klar, dass das Finanzsystem reformiert und besser beaufsichtigt und reguliert werden muss. Nicht alles, was seither beschlossen wurde, war sinnvoll, doch einige Lehren entpuppen sich heute als ungemein hilfreich. Die mittlerweile solide Kapitalausstattung von Banken führt in Deutschland dazu, dass die Kreditvergabe inmitten der Wirtschaftskrise nur im geringen Maße stottert, Geldhäuser also ihrer Funktion nachkommen – das zeigt jetzt auch eine Umfrage der Förderbank KfW und des Münchener Ifo-Instituts. Ebenso macht sich die über Jahre recht solide Haushaltspolitik des Bundes bezahlt, die jetzt Spielräume für diverse Hilfsprogramme lässt.In diesem Sinne strahlt die Finanzkrise also positiv auf die heutige Zeit aus. Aber die vielzitierte Weisheit, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt, lässt sich auch umdrehen und als Frage formulieren: Muss denn erst eine Krise her, um die Wahrnehmung für Gefahren zu schärfen? Der Mensch scheint gerade evolutionär auf diese Weise gepolt zu sein: Wir fürchten, was wir sehen. Umgekehrt kommen viele Gefahren erst gar nicht in den Sinn, solange sie sich nicht realisiert haben. Das ist ein Problem.Das zeigt sich gerade in der Finanzbranche: Der breit angelegte Cum-ex-Pfusch etwa war nicht nur in ethischer Hinsicht ein Versagen, sondern auch geschäftspolitisch ein Desaster. Die an sich wenig überraschenden Konsequenzen, die Gerichtsverfahren für die wesentlichen Akteure ebenso umfassen wie die ersten Insolvenzen von Unternehmen und einen massiven Reputationsschaden für viele weitere Spieler, hätten im Risikomanagement auffallen müssen. Auch die Aufsicht hat Gefahren oft nicht erkannt, wie der Libor-Skandal und jüngst der Wirecard-Kollaps zeigen. Und so setzt sich die Liste im Finanzwesen fort: Geldwäsche, Schiffskreditkrise, Griechenlandpleite – hinterher ist man immer schlauer, nur dann ist es schon zu spät.Die Wahrnehmung von Risiken ist ein kulturelles Phänomen, das nicht nur von vorherrschenden Werten geprägt wird, sondern auch von der Sichtbarkeit – das zeigt übrigens auch die Pandemie. Für Unternehmen liegt die Kunst darin, eine Risikokultur zu pflegen, die bis in die oberste Führungsebene hinein Gewicht hat und auch unorthodoxe Ideen zulässt. Das impliziert leider auch einen Kampf gegen die menschliche Neigung.