Im GesprächMartin Babilas

Altana will Forscherkompetenz mit künstlicher Intelligenz hebeln

Mit der weltweit größten High-Throughput-Screening-Anlage hat Altana nicht nur die Automatisierung ins Forschungslabor gebracht, sondern auch den ersten Schritt zur Nutzung künstlicher Intelligenz im Chemielabor unternommen.

Altana will Forscherkompetenz mit künstlicher Intelligenz hebeln

SERIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: MARTIN BABILAS IM GESPRÄCH (6)

„Kompetenz der Forscher-Teams hebeln“

Bei Altana hält Big Data im Forschungslabor Einzug – Mehr Raum für Kreativität – Nicht weniger Menschen, aber Anforderungsprofile ändern sich

Von Annette Becker, Wesel

High-Throughput-Screening-Anlage – welch ein Zungenbrecher. Doch das, was sich dahinter verbirgt, ist schwer beeindruckend. In den vollautomatisierten Hochdurchsatz-Screening-Anlagen lassen sich zeitaufwendige Reihentests nicht nur in Hochgeschwindigkeit, sondern auch in höchster Qualität durchführen. Aus der Wirkstoffforschung in der Pharmaindustrie sind die Anlagen nicht mehr wegzudenken, in anderen Branchen sind sie bislang aber noch eher selten im Einsatz.

Umso erstaunlicher, dass es der kleine Spezialchemiekonzern Altana ist, der seit Frühjahr 2021 die nach Firmenangaben weltweit größte und vielseitigste HTS-Anlage betreibt. Die Anlage steht am Firmensitz in Wesel, wo auch die Division Byk zu Hause ist. In dem digitalen Forschungslabor werden ausschließlich Additive für Lacke erforscht und erprobt. Gelegentlich finde man sogar „hidden stars“. Also Additive, welche eine Lösung böten, die man dort gar nicht vermutet habe, sagt Claudia Bramlage, die die HTS-Anlage leitet.

Die Anlage füllt einen mehr als 300 Quadratmeter großen Raum aus. Es gibt 32 Module mit 27 verschiedenen Funktionalitäten. Über ein Schienensystem sind die Module miteinander verbunden. Die Proben werden über ein Shuttle von einem Modul zum nächsten befördert – vollautomatisch. Am Cockpit sitzt ein Techniker, der den Betrieb überwacht und nur bei Störfällen eingreift.

Wenngleich Automatisierung in der Chemie zum Standard gehört, waren die Forschungslabore davon bislang ausgenommen. „Da Innovation für Altana Treiber des Geschäfts ist, ist die Digitalisierung in der Forschung für uns ein wichtiger Aspekt. Damit lässt sich die Kompetenz unserer Forscher-Teams hebeln“, erläutert Altana-Chef Martin Babilas im Gespräch mit der Börsen-Zeitung die Beweggründe.

Altana hat den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Stolze 15 Mill. Euro wurden in die Anlage investiert und glaubt man Babilas, beginnt sich das Investment langsam auszuzahlen: „Wir sehen heute bereits eine erhebliche Effizienzsteigerung. Wir gewinnen an Tempo und zugleich hat sich der Gestaltungsspielraum der Forscherinnen und Forscher erhöht“, zählt der Manager auf. Denn anders als die Menschen arbeitet die Anlage rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Täglich können bis zu 220 Proben durch die Anlage gejagt werden, auf das Jahr hochgerechnet sind es 80.000 Proben.

Da der Prozess vollautomatisiert ist, ist die Zeitersparnis enorm. Serientests, die früher Monate dauerten, sind heute in wenigen Tagen erledigt. Die Kapazität in der Anwendungstechnik werde mal eben verdoppelt, sagt Bramlage. Zugleich erhalten die Forscher mehr Freiraum für kreative Tätigkeiten, sind Reihentests für gewöhnlich doch ein wenig geliebter Routinejob, der aber nun einmal zum Forscheralltag dazugehört.

Doch mit der Automatisierung des Labors ist nur der erste Schritt getan, denn das Wesentliche ist die Digitalisierung und damit die Fähigkeit der Anlage, viele verschiedene Tests in einer Breite und Tiefe durchzuführen, von der Forscher bislang nur träumen konnten. „Bei der Anlage haben wir vielfach Neuland betreten, denn die Anlage ist am Ende nur so gut wie das dahinterstehende Datenmodell, das vor dem Bau konzipiert werden musste“, erläutert Babilas. Das Datenmodell muss so aufgesetzt sein, dass es später auch KI-Lösungen zugänglich gemacht werden kann.

Gab es bislang in den Laboren nur ein elektronisches Laborjournal, werden die Daten aus den Reihenversuchen nun digital aufgezeichnet. Der Vorteil: Die Daten werden strukturierter erfasst und sind noch dazu umfangreicher – angefangen bei der Formulierung über Prozess- und Applikationsparameter bis hin zu zusätzlichen Daten wie Temperatur oder Luftfeuchtigkeit. Hinzu kommt, dass viele Dinge, welche die Anwendungstechniker aus Erfahrung wissen, nun systematisch erfasst werden. „Die Anlage bietet die Möglichkeit, das Wissen und die Erfahrung der Forscherinnen und Forscher über die Digitalisierung allgemein in unserer F&E zugänglich zu machen“, verdeutlicht Babilas. 

Letztlich geht es bei der Anlage aber natürlich auch um künstliche Intelligenz. Denn wenn erst einmal genügend Daten vorliegen, sollten sich Testergebnisse besser vorhersagen lassen und im Anschluss eine zielgerichtetere Planung und Testung ermöglichen. Bis es so weit ist, wird aber noch einige Zeit ins Land ziehen. „Im Hinblick auf Data Analytics stehen wir erst am Anfang, denn die Anlage ist noch jung und wir haben noch nicht so viele Daten“, räumt Babilas ein. „Dennoch kann ich heute schon sagen, dass die Anlage inklusive des Datenmodells unsere Erwartungen erfüllt.“ Ziel ist es, die Daten analytisch so auszuwerten, dass sie anschließend wieder in
den F&E-Prozess zurückgespielt werden können.

In das mit der Anlage betretene Neuland will Altana nun weiter vordringen. „Wir werden diese Anlage mit Sicherheit erweitern“, sagt Babilas. „Auch muss es nicht bei dieser einen Anlage bleiben.“ Vorstellbar seien aber nicht nur andere Standorte und Anwendungsgebiete,
sondern auch die Nutzung in anderen Geschäftsbereichen. „Bevor das spruchreif ist, müssen wir aber zunächst mehr Erfahrung sammeln“, sagt der Altana-Chef.

Die Furcht, dass die Anlage Forscher überflüssig machen könnte, teilt Babilas nicht. Denn über Erfolg oder Misserfolg entscheiden am Ende die Menschen, die die Anlage bedienen. „Daher haben wir die Anlage auch in Wesel aufgestellt. An diesem Byk-Standort arbeitet jeder Dritte in der Forschung und Entwicklung“, erläutert Babilas. Was sich verändert, sind aber die Anforderungsprofile. Gerade an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine reicht chemisches Fachwissen nicht mehr aus, vielmehr gehört der Umgang mit den digitalen Instrumenten künftig auch zum Basiswissen.

Nachhaltigkeit

Dass die hochmoderne Anlage ausgerechnet in dem Land steht, in dem gerade der Abgesang auf den Industriestandort angestimmt wird, will Babilas auch als Symbol verstanden wissen. Denn die HTS-Anlage diene auch dem Erhalt und Ausbau des hiesigen Know-how-Pools. „Der Weg in Richtung Nachhaltigkeit ist unumkehrbar. Europa hat hier noch einen gewissen Vorsprung, den wir nicht verspielen sollten“, warnt der Altana-Chef.

Seinem Unternehmen bescheinigt Babilas gleichwohl, sich auf der Höhe der Zeit zu bewegen: „Bei Altana gibt es praktisch kein neues Projekt, in dem nicht auch Nachhaltigkeitsaspekte ihren Niederschlag finden.“ Entsprechende Kriterien seien in die Entscheidungsprozesse eingewebt.

Mit der weltweit größten High-Throughput-Screening-Anlage hat Altana nicht nur die Automatisierung ins Forschungslabor gebracht, sondern auch den ersten Schritt zur Nutzung künstlicher Intelligenz im Chemielabor unternommen. Den dafür erforderlichen Datenschatz gilt es aber erst noch aufzubauen.

Altana-Chef Martin Babilas will mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz im Labor die Kompetenz seiner Forscher-Teams hebeln, erläutert er im Gespräch.

Zuletzt erschienen „Der Ansatz ist ein Paradigmen­wechsel allererster Güte“ (3.5.)