Simulationsrechnung

Angst vor Gaslieferstopp nimmt ab

Am 23. Juni wurde die Alarmstufe ausgerufen. Doch die Wahrscheinlichkeit einer Erdgas-Versorgungslücke im Fall eines Stopps russischer Lieferungen ist deutlich gesunken. Dies signalisiert zumindest eine Simulationsrechnung der Wirtschaftsforschungsinstitute in der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose.

Angst vor Gaslieferstopp nimmt ab

cru Frankfurt

Im Median der Simulationsläufe „ergibt sich bei einem sofortigen Lieferstopp keine Gasversorgungslücke bis Ende kommenden Jahres“, heißt es laut Nachrichtenagentur Bloomberg in der gemeinsamen Studie von Ifo-Institut, IfW Kiel, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle und RWI Essen. „Grund dafür ist, dass zwischenzeitlich mehr Gas nach Deutschland geströmt ist und gespeichert wurde, als sonst im kommenden Jahr gefehlt hätte.“

Waren die deutschen Gasspeicher im April nur zu 30% gefüllt, so hat der Füllstand zuletzt 58% erreicht. Die Simulationen für Gasverfügbarkeit und Speicherfüllstände für einen sofortigen Lieferstopp zeigen im Median der Ergebnisse, dass die Speicher bis Ende 2023 positive Füllstände aufweisen dürften und damit die industriellen Verbraucher nicht rationiert werden müssen.

Risiken bleiben dennoch: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% ergebe sich im Jahr 2023 eine Gaslücke von mindestens 23,8 Terawattstunden (TWh). Im schlimmsten Szenario fehlten sogar fast 160 TWh. Aus Produktionsausfällen in den gasintensiven Industrien und bei ihren Abnehmern drohe im schlimmsten Fall ein Wertschöpfungsverlust von 283 Mrd. Euro, was 8,9% der Wirtschaftsleistung des Jahres 2021 entspräche.

„Die Politik sollte auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen, um die Anpassung an den negativen Energieschock möglichst effizient zu gestalten“, so die Empfehlung der Institute. Die russischen Erdgaslieferungen nach Europa über die Nord-Stream-Pipeline lagen auch am Dienstag bei nur rund 40% der Kapazität. BASF hatte mitgeteilt, die Produktion angesichts der gestiegenen Gaspreise und der Aktivierung der zweiten Stufen des Notfallplans Gas am 23. Juni womöglich zu drosseln.

Die russischen Gaslieferungen sind im Juni eingebrochen. Zwar hat Deutschland seine Abhängigkeit von russischem Gas in den vergangenen Monaten stark reduziert. Doch ist die Versorgungssicherheit mit Gas weiterhin von Russland abhängig.

„Ob auch die dritte Notfallstufe ausgerufen werden muss und damit eine Rationierung mit Gas bevorsteht, ist noch keine beschlossene Sache“, sagt Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater. „Es hängt davon ab, wie viel Gas aus Russland in nächster Zeit noch bezogen wird, wie viel vom fehlenden russischen Gas über andere Quellen wie Flüssiggas ersetzt wird, wie kalt der Winter wird und wie stark der Gasverbrauch sinkt.“

Ein Szenario ohne Rationierung sei noch vorstellbar, aber dafür dürften die russischen Gaslieferungen kaum weiter sinken. „Die Datenlage spricht dafür, dass ein weiterer nennenswerter Rückgang der russischen Gaslieferungen eine Gasrationierung in Deutschland zur Folge hätte.“ Aber auch bei der Rationierung gäbe es Abstufungen, von milderen bis zu drastischen Szenarien. Nur eins scheine klar: „Es ist dauerhaft mit erhöhten bzw. weiter steigenden Gaspreisen zu rechnen. Auf Sicht des kommenden Winters kann keine Entwarnung gegeben werden.“

Reduzierte Gaslieferungen aus Russland haben laut Unternehmensberatung Oliver Wyman weitreichende Konsequenzen für Verbraucher, Unternehmen und Energieversorger. Dies zeigt die Studie „Der Preis der Unabhängigkeit“, in der die kurz- und langfristigen Auswirkungen einer reduzierten Gaslieferung auf Haushalte, Unternehmen, den Energiemix und die Transformation der Energieinfrastruktur in Deutschland untersucht werden. So steigen bei einem kurzfristig gedrosselten Import die Energiekosten um bis zu 130% – ein Vier-Personen-Haushalt müsste jährlich bis zu 3700 Euro für Gas und Strom zusätzlich bezahlen. Bei einem Gaslieferstopp würde zudem eine Versorgungslücke von 25% entstehen, was Arbeitsplätze in energieintensiven Industrien wie Stahl und Chemie gefährde.