„Das halte ich schon vom Ansatz her für falsch“
Im Interview: Daniela Mattheus
„Radikale Veränderung im Regulierungsansatz nötig“
FEA-Präsidentin plädiert für mehr Vertrauen in die Unternehmen – Stabile Brücke zwischen Wirtschaft und Politik essentiell für Herausforderungen
Der heutige FEA Governance Summit 2025 hat das Motto „Building Bridges“. Präsidentin Daniela Mattheus dringt im Interview auf eine engere Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik. Der große regulatorische Rundumschlag habe für Müdigkeit gesorgt. Es brauche aber unbedingt Schwung für die Transformation.
Sie sitzen in Aufsichtsräten einiger Unternehmen verschiedener Branchen und haben einen guten Einblick in die Lage der deutschen Wirtschaft. Wie ist die Stimmung im Frühsommer 2025?
Die Stimmung ist – nach meinem Eindruck – noch etwas verhalten. Der konjunkturelle Anschub, der mit dem Koalitionsvertrag, der Ankündigung des Sondervermögens und den damit verbundenen Investitionen bzw. Entlastungen gesetzt werden soll, ist noch nicht so ganz angekommen. Es fehlte bislang an konkreten politischen Umsetzungen, um insbesondere Investitionen in größeren Ausmaß anzustoßen. Allerdings ist die Bundesregierung erst wenige Wochen im Amt. Zugleich ist das Umfeld insgesamt sehr herausfordernd. Wir haben extreme globale Unsicherheiten, die sich täglich verstärken: geopolitische Eskalationen, instabile Lieferketten und jüngst die sich ständig verändernden Zolldiskussionen führen zu einer Volatilität in der Geschäftsentwicklung und in den Prognosen. Etliche Unternehmen schleppen schwache Auftragslagen aus dem Jahr 2024 mit; die kommen jetzt zum Tragen. Und auch die hohen Energiekosten sind noch immer präsent.
Mein Eindruck war schon, dass die Wirtschaft mit der neuen Regierung mehr Hoffnungen verbindet als zuletzt mit der Ampel. Täuscht das?
Nein, dieser Eindruck täuscht nicht. Ich sehe eine enorme Erwartung und die begründete Hoffnung bzw. Zuversicht, dass die Politik liefert und sehr schnell erste Effekte spürbar werden. Es ist vielleicht jahreszeitlich kein guter Vergleich: aber man sieht die eingepackten Geschenke unter dem Weihnachtsbaum und kann die Bescherung kaum abwarten. Letzte Woche hat die Bundesregierung mit der Vorlage ihres Sofortprogramms und dessen Verabschiedung im Bundestag nun erste wichtige (Entlastungs-)Impulse gesetzt, auf die Unternehmen vertrauen dürfen. Die Stimmung beginnt sich zu drehen – und es wird höchste Zeit dafür! Die Wirtschaft muss und will anpacken, auch wenn die Rahmenbedingungen im Einzelnen schwierig sind. Wir werden in den nächsten Jahren immer wieder mit neuen, fundamentalen, Herausforderungen konfrontiert sein. Dafür ist eine stabile Brücke zwischen Wirtschaft und Politik essentiell.
Einer Frage, der wir nie richtig nachgegangen sind, ist, wie begreifen wir kulturell Regulierung?
Auf europäischer Ebene steht die Deregulierung im Vordergrund. Wie bewerten sie das Omnibus-Paket? Sollte nicht die Art und Weise, wie wir Regulierung in Europa anpacken, generell hinterfragt werden?
Da zielen Sie wahrscheinlich auf das Thema Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsberichterstattung. Ich habe selbst in Unternehmen erleben dürfen, welche enormen Ressourcen in das sog. nicht-finanzielle Reporting gesteckt wurden und dabei zum Teil auch Aufmerksamkeit von Nachhaltigkeitsprogrammen abgezogen worden ist. Das war sicher keine gute Entwicklung, wenngleich die Transparenz über die Daten uns – klug genutzt – zukünftig helfen mag, gezielter zu agieren und mehr Impact in Sachen Nachhaltigkeit zu generieren.
Regulierung, wie Europa sie angeht, bindet enorme Ressourcen...
Deregulierung ist in den vergangenen Jahrzehnten immer in Zyklen gekommen – auch in Deutschland und hat nur punktuell zum Abbau von Regeln und zu einer Vereinfachung in ausgewählten Bereichen (etwa im Gesellschaftsrecht) geführt. Einer Frage, der wir nie richtig nachgegangen sind, ist, wie begreifen wir kulturell Regulierung? Das fängt bei der Anzahl der gesetzgeberischen Maßnahmen an: Im letzten Jahr gab es in Europa rund 13.000 Gesetzgebungsverfahren; in den USA waren es in derselben Zeit ca. 3.500, also 75% weniger. Man mag heute nicht mehr alles aus den USA als Blaupause nehmen, aber hier sollten wir doch einmal genauer hinschauen.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen uns in Europa und Deutschland darüber Gedanken machen, welche Steuerungsaufgabe Regulierung für den Wirtschaftsstandort haben soll: Detailsteuerung von Verhalten mit Beschränkungen und dem Image einer Verhinderungsregulierung oder eine Regulierung, die primär auf Vertrauen und Verantwortung der Regelungsadressaten setzt und nur Exzesse – etwa über eine Aufsicht – ahndet. Ich habe große Sympathie für eine solche Ermöglichungsregulierung. Sie wird uns beschleunigen statt behindern. Freilich muss mit dieser unternehmerischen Freiheit auf Unternehmensseite auch verantwortungsvoll umgegangen werden.
Es ist für international tätige Unternehmen schon echter Mehraufwand, überhaupt herauszufinden, wie die entsprechenden Regeln in den einzelnen EU-Ländern umgesetzt worden sind.
Wird die bestehende Regulierung denn überhaupt gleich gelebt in Europa?
Das ist Teil der Regulierungskomplexität im europäischen Raum. In vielen legislativen Akten setzt die EU „nur“ den Mindeststandard mit der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die Regulierung noch zu verschärfen. Dies wird ebenso häufig in Anspruch genommen, wie von den diversen Mitgliedsstaatenwahlrechten Gebrauch gemacht wird. Es ist für international tätige Unternehmen schon echter Mehraufwand, überhaupt herauszufinden, wie die entsprechenden Regeln in den einzelnen EU-Ländern umgesetzt worden sind. Das ist nur bedingt wertschöpfend, lässt sich aber freilich aktuell nur schwer abschaffen.
Woran liegt das?
Die EU-Regulierung beruht immer auf Kompromissen. Werden solche individuellen Regelungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten abgeschafft, drohen Gesetzgebungsverfahren in Brüssel noch langsamer zu werden. Hier hilft nur eine radikale Veränderung im Regulierungsansatz, der dann aber auch durchgehalten werden muss. Der Omnibus ist grundsätzlich zu begrüßen; aber mit einem Hin und Her kann viel Vertrauen verspielt werden. Verlässlichkeit ist nicht ein hohes Gut!
Orientiert sich die Regulierung zu stark an der Finanzberichterstattung. Könnte man nicht wie im Verkehr Führerscheine ausstellen, anstatt jede Fahrt zu dokumentieren?
Das ist ein interessanter Gedanke; er hinkt mit Blick auf die Finanzberichterstattung – wie Sie sagen – etwas. Jemand, der in ein Unternehmen investiert – sei es als institutioneller Investor oder als Privatperson mit ihrer individuellen Altersvorsorge – erwartet zu Recht und regelmäßig eine solide Basis für diese Investitionsentscheidung. Es geht nicht um die Frage, ob die Unternehmenslenker geeignet sind ein Unternehmen zu führen, also um eine Art „Führerschein“ für Vorstände, sondern um Transparenz. Eine kleine Randnotiz: In Finanzinstituten und Versicherungsunternehmen bedient sich der Regulator beider Mechanismen: dem „Führerschein“ für Geschäftsleiter plus einer Detailregulierung bei Aufgabenwahrnehmung.
Wie werten Sie den aktuellen Ansatz?
Der deutsche Gesetzgeber hat Transparenz in den vergangenen Jahren häufig als verhaltenssteuerndes Instrument gewählt, z.B. bei der Einführung von Diversität: Er hat im ersten Schritt verlangt, dass über die Frauenquote, ein Ziel und die Zielerreichung berichtet werden muss. Erst als dieser Mechanismus nicht wie gewünscht Wirkung gezeigt hat, hat er eine gesetzliche Frauenquote etabliert. Transparenz ist mithin der „mildere“ Eingriff in die unternehmerische Freiheit, freilich mit einem negativen Effekt: dem enormen Aufwand für das Berichtswesen.
Mit den heutigen Large Language Models und dem technologischen Fortschritt, den es in den nächsten Jahren geben wird, sehe ich das anders.
Einige Geschäftsberichte umfassen über tausend Seiten. Das dient doch nicht der Transparenz?
Vor kurzer Zeit hätte ich Ihnen hier uneingeschränkt recht gegeben. Aber mit den heutigen Large Language Models und dem technologischen Fortschritt, den es in den nächsten Jahren geben wird, sehe ich das anders. Mittels künstlicher Intelligenz werden alle Informationen personalisiert und für das individuelle Informationsbedürfnis niedrigschwellig verfügbar sein. Insofern ist das kein Argument mehr. Dies stellt übrigens auch die Zukunft des ESEF-Taggings in Frage.
Wie sieht es mit der stärkeren europäischen Angleichung in der Governance aus, auch um ausländische Investoren oder Aufsichtsräte zu gewinnen?
Unser Governance-Modell in Deutschland ist schon ein Besonderes. Der wesentliche Unterschied – auch zur europäischen SE – ist, dass die Aufsichtsräte nicht so groß sind. Also statt 20 nur 12 Mitglieder haben. Das ist ein ganz anderes Arbeiten. Lassen Sie mich aber ganz offen sagen: Ich schätze den Beitrag der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat sehr. Die Mitbestimmung in einen gut geführten Aufsichtsrat ist nicht unsere primäre Herausforderung. Es ist die Gremiengröße; sie lässt Interaktion und Interaktivität in den Sitzungen nur begrenzt zu. In den großen Aufsichtsräten haben wir in der Regel viele Ausschüsse und komplexere Abstimmungsstrukturen. Das ist ineffizient und limitiert das Gremium, etwa in seiner Rolle als Sparringspartner des Vorstands.
Wie hilft der Arbeitnehmerbeitrag?
Externe Aufsichtsratsmitglieder haben selten die Unternehmens-Insights wie die Vertreter der Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmerseite bringt andere, sehr wertvollen Perspektiven in die strategischen und operativen Diskussionen in den Aufsichtsrat. Breites Stakeholder-Involvement und Diversität ist in unseren Debatten unerlässlich. Auch international bewegt sich etwas: Es gibt andere Länder, die Arbeitnehmerperspektiven in ihre Boards einbringen.
Das Thema Sustainability hat in den USA derzeit starken Gegenwind. Würden Sie einem europäischen Unternehmen raten, die eigene Position anzupassen?
Unternehmen müssen sich weiter mit Sustainability beschäftigen. Es nicht zu tun, wird Unternehmen sehr viel Geld kosten; vielleicht nicht heute, aber spätestens übermorgen. Wir erfahren doch schon die physischen Auswirkungen (Hitze, Wasserknappheit, Überschwemmungen usw.), die der Klimawandel bewirkt. Hiervon werden die allermeisten alle Unternehmen in der einen oder anderen Form betroffen sein. Als Aufsichtsrätin halte ich die Frage, ob es Klimaschutzbemühungen von Unternehmen braucht, für unnötig. Es gibt handfeste ökonomische Gründe, warum sich ein Unternehmen mit dem Klimawandel und seine Konsequenzen beschäftigen muss.
Ein Vorteil der Nachhaltigkeitsberichterstattung kann sein, zu erkennen, wo ökologisch und ökonomisch wirksame Hebel sind. Ist die Belastung von heute vielleicht der Vorteil von morgen?
Völlig richtig. Bei aller berechtigter Kritik am Umfang und dem Detailgrad der europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattung ist es genau das, was man positiv aus dem ESRS-Reporting ziehen kann und muss. Unternehmen sollten genau evaluieren, auf welche Nachhaltigkeitsaktionen sie sich mit den gewonnenen Erkenntnissen konzentrieren wollen. Wo sind ökonomisch und ökologisch die größten Hebel? Und wo können sich Unternehmen innert kürzester Zeit entscheidend verbessern bzw. den größten Impact entfalten?
Der große regulatorische Rundumschlag hat für Müdigkeit gesorgt. Wir brauchen aber Schwung für diese Transformation – unbedingt!
Also Fokussierung auf einige, wenige Kennziffern statt eines Rundumschlags?
Unbedingt. Eigentlich war das ja auch mal die Intension mit der doppelten Wesentlichkeit: Fokus auf die wesentlichen Impacts, Risiken und Chancen. Vielleicht wäre der Fokus auf die drängendsten Klimafragen, etwa die CO2-Reduktion vorzugswürdig gewesen. Und wenn wir hieran fokussiert arbeiten, lösen wir vielleicht auch schon ein bisschen das Thema Biodiversität, Wasser, Müll etc. Ich verstehe die physikalische Dringlichkeit, aber der große regulatorische Rundumschlag hat für Müdigkeit gesorgt. Wir brauchen aber Schwung für diese Transformation – unbedingt!
Ein anderes Thema ist Diversität und damit verbundene Quoten. Es gibt Unternehmen wie SAP, die fahren ihre Diversitätsziele zurück. Braucht es nicht vor allem mehr Frauen in MINT-Berufen?
Völlig richtig. Man muss bei der Ausbildung anfangen. Wobei man in den vergangenen Jahren sehen konnte, dass Frauen gleich oder sogar überproportional gute Abschlüsse machen und erste Karriere-Schritte gehen, aber ab einer gewissen Führungsebene eben nur mit externer Steuerung, der Frauenquote, ein so schneller Wandel in den obersten Führungsetagen möglich war. Es werden nach meiner Wahrnehmung viel Anstrengungen unternommen, junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern.
Und in den USA?
Nur zwei Sätze zu der Entwicklung in den USA: Das ist hoffentlich nur ein politisch vorübergehender Trend, der zu äußerlichen Auswirkungen, wie Policy-Änderungen. führt. Bei unserem Fachkräftemangel können es sich die wenigsten Unternehmen leisten, eine Rolle rückwärts in Sachen DEI zu machen.
Klar, aber für viele Unternehmen ist das ein Problem…
Meine Beobachtung ist, dass die Unternehmen sich bewusst sind, was für Herausforderungen es gibt, junge Menschen in Ausbildung und später in Karriere zu bringen – nicht nur Frauen. Zudem werden die geburtsstarken Jahrgänge bald altersbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden. Die Unternehmen müssen – trotz aller Technologiefortschritte – dagegen anarbeiten. Mich treibt um, wie Erfahrungen und Wissen auf die jüngere Generation übergehen können. Das ist auch eine Kulturfrage.
Mich treibt um, wie Erfahrungen und Wissen auf die jüngere Generation übergehen können. Das ist auch eine Kulturfrage.
Wie meinen Sie das?
Beim Fachkräftemangel fokussieren sich die Bemühungen auf die Gewinnung junger Talente und auf die Attraktivität für diese Generation. Dies ist enorm wichtig, keine Frage. Gleichwohl vernachlässigen wir oft, ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Unternehmen zu halten und deren Bedürfnisse ebenso zu berücksichtigen. Das muss sich m.E. ändern. Das ist People & Talent Management, ein Thema, das mittlerweile auch den Aufsichtsrat erreicht hat. Mit Ausnahme der Personalplanung wurden HR-Themen lange Zeit nicht wirklich intensiv im Aufsichtsrat behandelt. Heute befassen wir uns mit den Ergebnissen von Mitarbeiterbefragungen, dem sog. Employee Engagement Index, mit den Ausbildungsprogrammen, fragen nach Homeoffice-Regelungen, Job-Sharing und vielem mehr! Wir sprechen viel umfassender über die Menschen im Unternehmen. Das ist eine sehr gute Entwicklung!
Sie sind nicht erst seit gestern als Aufsichtsrätin tätig und haben vorher Aufsichtsräte beraten. Was hat sich über die letzte Dekade in der Arbeit verändert?
In der letzten Dekade sind die Themen auf der Aufsichtsratsagenda umfangreicher geworden: Compliance, Nachhaltigkeitsberichterstattung, künstliche Intelligenz, Cyber Security, Zölle, Lieferketten, Sanktionspakete – das Spektrum ist extrem breit. Zugleich ist Aufsichtsratsarbeit heute agiler und zeitintensiver. Als Aufsichtsrätin muss ich mich in viele aktuelle Themen einarbeiten. Ich muss nicht überall Expertin, aber sprech- bzw. fragefähig sein. An den Vorstand die richtigen Fragen zu adressieren und Ideen, etwa in die Strategiediskussion reinzugeben, ist Teil der Rolle als Sparringspartner. In diesem Sinne verstehen sich heute eine Vielzahl von Aufsichtsräten: Es geht um den Impact des Aufsichtsrats, also unter Wahrung der Vorstandsverantwortung, das Unternehmen zu führen und wertschöpfend an der Weiterentwicklung des Unternehmens teilzuhaben.
Das Interview führte Sebastian Schmid.