"Die Merck-Familie verhält sich als rationaler Investor"
– Herr Kuhnert, Merck wird 2018 350 Jahre alt. Was kann der Finanzchef zur Feier beisteuern?Für mich bietet es den Anlass, den langfristigen Kontext zu betrachten und zu fragen, was ein Finanzchef beitragen kann, damit ein Unternehmen so alt wird. Finanzielle Stabilität ist zu allen Zeiten eine wichtige Bedingung für erfolgreiches Wirtschaften. In einem Familienunternehmen wie Merck hat der CFO zudem eine besondere Rolle als Mittler zwischen der Familie, die 70 % der Anteile hält, und den übrigen Anteilseignern. Wir wollen das Jubiläum natürlich auch für unsere Mitarbeiter angemessen begehen, ohne dabei finanziell unsinnige Dinge zu tun.- Sind die Interessen der beiden Aktionärsgruppen überhaupt unter einen Hut zu bringen?Die Familie nimmt eine sehr langfristige Perspektive in der Weiterentwicklung des Konzerns ein. Für diesen Kreis ist es oberstes Ziel, das Unternehmen in noch besserem Zustand an die nächste Generation weiterzugeben. Dem stehen die häufig eher kurzfristig angelegten Interessen des Kapitalmarkts gegenüber. Hier die Balance zu halten, gehört zu den wichtigen Aufgaben des CFO bei Merck.- Zeigt der Kapitalmarkt für die Sicht der Familie Verständnis?Die Merck-Familie verhält sich als rationaler Investor. Somit herrscht größere Homogenität der Interessen zwischen den Anteilseignergruppen, als man auf den ersten Blick von außen womöglich vermuten würde. Wesentlicher Unterschied ist da eher der Zeithorizont mit dem Fokus institutioneller Anleger auf Quartalsergebnisse.- Ist es in der langen Geschichte von Merck stets gelungen, das Unternehmen in besserem Zustand an die nächste Generation weiterzugeben?Die Höhen und Tiefen in der Unternehmensgeschichte sind eng mit der deutschen Geschichte und den beiden Weltkriegen verbunden. Nach Kriegsende 1945 erzielte Merck einen Umsatz von umgerechnet 5 Mill. Euro, das waren bescheidene Dimensionen. 1959 wurde erstmals die Marke von 100 Mill. Euro geknackt, 1980 die erste Milliarde erreicht, und nach dem Börsengang 1995 ging es rapide bergauf.- Die Öffnung für den Kapitalmarkt hat sich also ausgezahlt?Ja, die Öffnung hat sich ausgezahlt, weil der Performance-Druck der Kapitalmärkte eine gute Ergänzung zur Langfristperspektive der Familie ist. Merck war schon lange vor dem Börsengang an den Kapitalmärkten aktiv. Die erste Bondemission datiert aus dem Jahr 1919. Volumen: 7 Mill. Mark.- Ihr CEO wurde jüngst mit den Worten zitiert: Merck sei auch mal ein Start-up gewesen, allerdings im Jahr 1668. Risikokapital wird damals rar gewesen sein?Das Risiko trug Unternehmensgründer Friedrich Jakob Merck. Und dies in einer Zeit, in der der Dreißigjährige Krieg noch nicht lange vorüber war. Das Unternehmen, die Engel-Apotheke in Darmstadt, hat offensichtlich als Start-up die Kurve gekriegt. In unserer Branche kenne ich kein Unternehmen, das älter ist.- Merck hat zuletzt mit großen Akquisitionen das Geschäft auf eine breitere Basis gestellt. Neben Bayer gehören sie zur inzwischen raren Spezies der chemisch-pharmazeutischen Konglomerate. Hat dieses Modell Zukunft?Klares Ja. Konglomerat steht in unserer Interpretation für einen bestimmten Grad der Diversifizierung. Merck ist über verschiedene Geschäftsmodelle diversifiziert. So ist der Bereich Life Science zum Beispiel ein Stabilitätsanker im Portfolio. Wir agieren in einem großen Markt, der nachhaltig wächst und hohen Cash-flow generiert. Das Performance-Materials-Geschäft ist volatiler. Pharma folgt durch die notwendigen Medikamentenzulassungen einer fast binären Logik: Ein Medikament kommt, oder es kommt nicht. Zudem ist der Konzern über die breite regionale Aufstellung diversifiziert. Damit gleichen wir konjunkturelle Zyklen weltweit aus.- Es geht also primär um den Ausgleich von Risiken?Ja, es geht primär um Risikodiversifizierung. Die Diversifizierung in dieser Form hat auch mit der Aktionärsstruktur zu tun. Das typische Argument für fokussierte Unternehmen ist, dass Aktionäre ihr Portfolio billiger und besser selbst diversifizieren können. Das gilt für Merck nicht, weil die Familiengesellschafter ihr Vermögen in der Firma haben und sie ihr Portfolio nicht außerhalb diversifizieren. Das Unternehmen muss deshalb selbst über das Portfolio für einen gewissen Grad an Streuung sorgen. An einer diversifizierten Grundausrichtung wird sich in den nächsten Jahren wenig ändern.- Das schließt ein aktives Portfoliomanagement ein?Hier sind wir sehr aktiv, und natürlich sehen wir uns unser Portfolio regelmäßig an und stellen es auf den Prüfstand. In den vergangenen 15 Jahren hat Merck Transaktionen im Volumen von fast 40 Mrd. Euro bewältigt, vor allem auf der Akquisitionsseite, doch wir haben uns auch von Teilen getrennt. Dieses Vorgehen wird sich fortsetzen. Zum Beispiel haben wir ja im Frühjahr bekannt gegeben, dass wir unser Biosimilars-Geschäft an Fresenius verkaufen. In der Fachwelt gibt es im Übrigen keine klare Aussage, ob Konglomerate besser sind als fokussierte Unternehmen. Das hängt stark vom jeweiligen Management ab, also davon, ob der interne Kapitalmarkt im Konzern funktioniert, ob es also transparente und effiziente Regeln für die Kapitalallokation gibt. Merck war mit Zukäufen sehr erfolgreich. Die Ergebnisbeiträge aller größeren Zukäufe der vergangenen Jahre haben die Kapitalkosten übertroffen.- Gilt das auch für den Erwerb von Serono?Ja. Zwar hat die übernommene Pipeline nicht den erhofften Produktnachschub gebracht, doch die bereits im Markt eingeführten Medikamente haben die Erwartungen weit übertroffen – zum Beispiel das Multiple-Sklerose-Medikament Rebif.- Wie hoch schätzen Sie den Konglomeratsabschlag in der Aktie?Folgt man dem Schnitt der Analystenberichte, dürfte er bei etwa 10 % liegen.- Gibt es Synergien zwischen den drei Sparten?Ja, und sie gehen oft über das hinaus, was man auf den ersten Blick zu erkennen meint. Mit dem neuen Innovations-Center in Darmstadt verfolgen wir auch das Ziel, noch mehr Synergien zwischen den Unternehmensbereichen zu heben, insbesondere in Forschung und Entwicklung.- Nach der 17 Mrd. Dollar schweren Übernahme von Sigma-Aldrich 2014 stand erst mal die Integration im Vordergrund. Das dürfte weitgehend erledigt sein?Wir sind gut im Plan, aber noch nicht ganz durch. Wir haben das anfangs für 2018 gesteckte Synergieziel um 20 Mill. auf 280 Mill. Euro aufgestockt. Im laufenden Jahr liegt noch einiges vor uns, insbesondere in der Optimierung von Produktion und Lieferketten. Auch auf der Marktseite ist noch die ein oder andere Integrationsmaßnahme zu stemmen. Hier waren wir anfangs behutsam, um die Umsatzdynamik nicht zu gefährden.- Der Verschuldungsgrad ist bereits auf 2,4 zurück, dennoch haben Sie sich eine Karenzzeit für neue Akquisitionsschritte bis Ende 2018 verordnet. Warum so zurückhaltend?Das ist eine Gratwanderung. Einerseits müssen wir von Zeit zu Zeit in allen drei Unternehmensbereichen in gewissem Umfang akquirieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Auf der anderen Seite gibt es gegenüber Ratingagenturen und somit auch den Debt-Investoren klar kommunizierte Ziele.- Deren Reaktion auf die Sigma-Akquisition war doch wohlwollend?Richtig. Dahinter steckt die Erwartung, dass wir den vergleichsweise hohen Schuldenstand sehr zügig zurückführen. Die Ratingagenturen gewähren Merck auf der Grundlage der zügigen Entschuldung nach Akquisitionen in der Vergangenheit und des diversifizierten Geschäftsmodells eine Karenzzeit. Diese müssen wir nutzen, um unsere Finanzkennzahlen, speziell die Relation von operativem Cash-flow und Fremdkapital, wieder in eine Größenordnung zu bringen, die das aktuelle Rating rechtfertigt. Dies resultiert in einem klar definierten Pfad zum Schuldenabbau. Somit ist unsere finanzielle Flexibilität begrenzt, bis wir wieder bei einer Relation von Nettoverschuldung zu Ebitda vor Sondereinflüssen von etwa 2 angekommen sind.- Kleinere Käufe wären machbar?Erwerbe bis 500 Mill. Euro sind möglich, was darüber hinausgeht, müsste durch Divestments finanziert werden. Sonst würden wir Gefahr laufen, den Entschuldungsplan nicht einhalten zu können.- Wäre denn eine Stufe niedrigeres Rating in diesen Zeiten ein Problem?Es wäre nicht problematisch mit Blick auf das absolute Zinsniveau. Doch Merck hat für die Finanzierung des Sigma-Kaufs Hybridbonds eingesetzt. Der Charme dieser Anleihen ist, dass Ratingagenturen sie bei bestimmtem Design als Eigenkapital anrechnen. Mit ihrem Charakter als nachrangiges Fremdkapital notieren die Hybridbonds zwei Stufen unter dem Unternehmensrating. Hier beurteilt uns Moody’s derzeit mit “Baa1”. Der Hybrid ist also gerade noch im Investment Grade und würde mit einer Abstufung im Junk-Bereich landen. Das wollen wir auf jeden Fall vermeiden.- Was würde passieren?Viele Investoren müssten sich verabschieden, relativ schnell und vermutlich mit Verlust. Das wäre nicht hilfreich für unser Standing im Markt. Das wollen wir in jedem Fall verhindern.- Sie haben das Ziel ausgegeben, dass mittelfristig alle Bereiche ihre Kapitalkosten verdienen sollen. Ist man hier überall im Ziel?Bei Sigma braucht es nach der Akquisition noch einige Zeit. Wir hatten fünf bis zehn Jahre eingeräumt, bis der Return on Capital Employed wieder die Kapitalkosten übersteigt. Alle anderen Geschäftsbereiche sind bereits deutlich darüber.- Die lange erhofften Fortschritte in der Pharma-Pipeline treiben die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Für 2017 haben Sie 150 bis 200 Mill. Euro höhere Kosten in Aussicht gestellt, wird es 2018 weiter nach oben gehen?Es ist noch zu früh für eine Aussage. Einerseits werden durch den vereinbarten Verkauf des Biosimilars-Geschäfts F & E-Kosten wegfallen. Andererseits haben wir viele Projekte in der Pharma-Pipeline. Zudem sind im kommenden Jahr erste Umsätze aus neuen Medikamenten zu erwarten, was im Ergebnis entlastet.- Sigma und die mit dem Zukauf geformte Life-Science-Sparte sollten ja die Durststrecke bis zum Erfolg neuer Pharmaprodukte ausgleichen. Wird das gelingen, wenn nun das Flüssigkristallgeschäft erst mal schrumpft?Zur Klarstellung vorab: Der Sigma-Kauf war eine strategische Entscheidung zur Stärkung eines unserer Kerngeschäftsfelder. Es ging nicht darum, ein schwächelndes Pharmageschäft zu unterstützen. Für die Sparte Performance Materials wird es angesichts der Situation bei Flüssigkristallen in Zukunft schwierig, die Marge auf den Niveaus der Vergangenheit zu halten. Das mit Abstand profitabelste Segment des Unternehmensbereichs verliert an Bedeutung, weil das Geschäft mit Flüssigkristallen nicht mehr wächst.- Es spielt aber auch eine geringere Rolle als in der Vergangenheit?Das Flüssigkristallgeschäft steuert heute weniger als 50 % zur gesamten Sparte bei. Mittlerweile gibt es daneben drei starke Bereiche, die sich sehr gut entwickeln. Das hilft, die momentan schwierigere Situation bei Flüssigkristallen zu kompensieren.- Es wird keine Delle im Gesamtkonzern geben?Das kann man noch nicht sagen. Es gibt hier mehrere Faktoren. Wir verlieren bis Ende 2018 durch die Normalisierung des Marktanteils im hochmargigen Flüssigkristallgeschäft 200 Mill. bis 300 Mill. Euro an Umsatz. Auf der anderen Seite stehen zusätzliche Pharmaumsätze, unter anderem durch neue Produkte, und ein weiterhin erfolgreiches Life-Science-Geschäft.- Mit der Sigma-Akquisition hat das Geschäft in den USA deutlich höheres Gewicht bekommen. Wie erlebt Merck das Chaos der US-Politik? Haben Sie noch verlässliche Rahmenbedingungen?Für uns hat sich nicht viel geändert. Wir bekommen zwar eine höhere Verunsicherung bei Kunden zu spüren, weil sie vorsichtiger investieren. Das beeinträchtigt unser Geschäft jedoch bislang kaum. Dazu kommt die Währungsseite, was etwas schmerzhafter ist und direkt auf die Zahlen einwirkt. Die Dollarschwäche war ja auch der Hauptgrund für die leichte Anpassung der Umsatzprognose nach dem zweiten Quartal.- Ein Zukunftsthema ist die Digitalisierung des Geschäftsmodells. Die gesamte Führungsriege war im Frühjahr im Silicon Valley. Welche Eindrücke waren für den Finanzchef am nachhaltigsten?Wir haben uns dort, aber auch schon vorher, mit Szenarien disruptiver Entwicklungen befasst. So etwa mit der Frage, ob irgendwann Displays durch virtuelle Realität oder Hologramme abgelöst werden könnten. Oder was es bedeuten würde, wenn Laborzubehör ausschließlich über Online-Versender bezogen würde. Oder wenn Pharmaunternehmen nur noch Medikamentenhersteller sind und die Hoheit über klinische Daten bei Dritten liegt.- Haben Sie Antworten gefunden?Die Antwort fällt auf fast alle Fragen relativ ähnlich aus: Wir müssen uns für digitale Geschäftsmodelle öffnen. Dieses Thema hat sich unser CEO auf die Fahne geschrieben. Wir haben eine Menge digitale Initiativen gestartet, die sich gut entwickeln.- Was verändert sich aus der Finanzperspektive?Die Finanzabteilung unterstützt die verschiedenen Geschäftsbereiche in der Umsetzung ihrer digitalen Projekte. Wir leisten aber auch einen originären Beitrag. Es zählt zu den Kernkompetenzen des Finanzbereichs, Daten in entscheidungsrelevante Informationen zu überführen.- Wo setzen Sie an?Wir konzentrieren uns in den digitalen Technologien im Finanzbereich auf drei Schwerpunkte: Mobiler Datenzugang durch Finance Apps. Hier wird der Mitarbeiter zum Beispiel benachrichtigt, wenn eine Budgetüberschreitung droht. Zudem arbeiten wir an Predictive Analytics zur Verbesserung der Qualität betriebswirtschaftlicher Entscheidungen, zum Beispiel im Bereich verbesserter Umsatzprognosen, die uns erlauben, unsere Lagerreichweiten zu senken. Drittes Thema ist Robotics, also die Automatisierung von standardisierten Prozessen, um Effizienzvorteile zu generieren.- Braucht es nicht auch ein anderes Risikobewusstsein im Controlling? In der Szene gilt ja der Leitspruch: Wollen Sie ein Start-up ruinieren, schicken Sie den Corporate Controller.Merck ist ja nun schon recht lange kein Start-up mehr. Man kann Schlussfolgerungen eines Start-up nicht einfach auf große Unternehmen übertragen. Gleichwohl sollten wir viel vom Start-up-Denken adaptieren, weil Intensität und Tiefe des Wandels zunehmen und man mit anderen Denkmustern an Themen herangehen muss.- Fürchten Sie die Konkurrenz durch einen Robo-CFO ?Nicht mehr zu meiner Zeit. Ich bezweifle, dass man wichtige Funktionen im Finanzbereich absehbar durch Roboter ersetzen kann. Allerdings wird sich das Rollenverständnis von Top-Finanzmanagern in Zukunft deutlich wandeln. Veränderungsprozesse werden deutlich disruptiver und schneller vonstatten gehen als in der Vergangenheit. Wir werden auch im Finanzbereich gezwungen sein, manche Dinge viel mehr mittels Trial and Error zu erproben.—-Das Interview führte Sabine Wadewitz.