IM INTERVIEW: HEIKO FISCHER

"Die Politik als Eigner der Bahnen muss mehr tun"

Waggonvermieter VTG fordert Impulse für Belebung des Schienengüterverkehrs - Vorstandschef bekräftigt Jahresziele - Aktie zehn Jahre nach IPO auf Allzeithoch

"Die Politik als Eigner der Bahnen muss mehr tun"

Bis 2030 sollen nach EU-Vorstellungen 30 % der Langstreckengütertransporte in Europa von der Straße auf Schiffe oder die Schiene verlagert werden – von heute etwa 18 %. Ob das gelingt? Der Waggonvermieter VTG rüstet sich für die digitale Ära, moniert aber auch nachteilige Rahmenbedingungen für die Schiene. Die Arbeit an der Profitabilität hat derzeit Vorrang, wie Vorstandschef Heiko Fischer erläutert.- Herr Dr. Fischer, vor zehn Jahren, am 28. Juni 2007, kam die VTG-Aktie an die Börse. Welche Erinnerungen haben Sie daran?Wir schafften es gerade noch vor dem großen Finanzmarktbeben an die Börse. Das IPO hinzubekommen, war eine große Leistung. Es gab auf den Roadshows in New York und London Analysten und Fondsmanager, die Meetings überstürzt verließen, weil sie sich um ihre wackligen Portfolios sorgten.- Waren Sie mit der Bewertung zufrieden?Unsere Bewertung beim Börsengang war in Ordnung, auch wenn sie unserem ehemaligen Großaktionär, dem heutigen US-Handelsminister Wilbur Ross, zu niedrig erschien. Wir haben dann aber erlebt, dass eine Börse unter dem Eindruck von Stimmungen die fundamentale Unternehmenswirklichkeit aus dem Blick verlieren kann. In der Finanzmarktkrise gerieten ja die Aktien vieler Unternehmen, die gar nicht betroffen waren von den Verwerfungen etwa im US-Subprime-Immobilienmarkt, unter Druck.- Und die weitere Entwicklung?Die VTG hat nach dem Börsengang eine insgesamt positive Entwicklung genommen und sich bis heute verdoppelt. Die großen Aktienmarktschwankungen, die teilweise übertrieben waren, haben sich dabei in den Zahlen der VTG kaum niedergeschlagen.- Die VTG-Aktie kam mit 18 Euro in den Handel, Anfang 2009 lag der Kurs nur noch bei gut 5 Euro. Wie beurteilen Sie die Kursentwicklung bis heute?Wenn der Aktienkurs mit kleinen Auf und Abs mehr oder weniger linear bis auf das heutige Niveau von rund 33 Euro gestiegen wäre, hätte ich gesagt: Diese Entwicklung ist unauffällig und passt zu unserem Geschäftsmodell. Der tatsächliche Kursverlauf seit 2007 spiegelt die zwischenzeitlichen Unruhen am Kapitalmarkt wider. Das Anlegerverhalten ist sehr kurzatmig geworden.- Die VTG-Aktie erreichte am 16. Juni mit 33,27 Euro den bisher höchsten Schlusskurs. Wie bewerten Sie die aktuellen Perspektiven?Von der allgemeinen Marktentwicklung kann auch die VTG sich nicht immer abkoppeln. Vielleicht wird die Börse in Zukunft wieder unruhiger. Wer weiß das schon?! Aber wir sind inzwischen größer und auch stabiler geworden. Wir haben in der Vergangenheit bewiesen, dass wir solide durch solche Krisen gehen.- Inwiefern?Wir decken mehr Industriesektoren ab, auch durch unsere Wagen für den kombinierten Verkehr. Dadurch werden wir von mehr konjunkturellen Faktoren beeinflusst. Gleichzeitig schafft diese Diversifikation auch Flexibilität und macht uns stabiler – unser Erfolg ruht auf mehreren Säulen. Allerdings ist weiteres Wachstum mit den gleichen Raten von früher auf dieser höheren Basis schwieriger. Um bei Ebitda und Cash-flows stark zuzulegen, wären eine weitere größere Akquisition wie die AAE-Übernahme 2015 oder größere Investitionsprogramme notwendig.- Sind größere Übernahmen in absehbarer Zeit zu erwarten?Vorerst haben wir uns vorgenommen, stärker an der Profitabilität des Unternehmens bei vergleichbarer Ebitda- und Cash-flow-Basis zu arbeiten – auch um Luft für weiteres anorganisches Wachstum zu holen. Zudem müssen wir dem 4.0-Zeitalter Rechnung tragen und versuchen, Prozesse umzustellen und fit zu werden für die digitalisierte Welt. Das erfordert ein Umlenken von Ressourcen und auch ein Umdenken, was Wachstum eigentlich bedeutet.- Derzeit wird viel über die Zukunft des Welthandels gesprochen. Sehen Sie neue Gefahren für den Warenverkehr und für das Geschäft der VTG?Die Wirtschaft in unserem europäischen Kernmarkt hat anders als vor unserem Börsengang keine dynamische Entwicklung hinter sich. Insofern halte ich die Risiken einer deutlichen Wachstumsabschwächung für begrenzt. Vor gut zehn Jahren war die Lage anders, damals schien der Aufschwung nicht zuletzt in Südeuropa keine Grenzen zu kennen. Das Ostgeschäft war offen, Russland holte auf. Die Türkei als Partner der Hannover Messe war ein großer Hoffnungsträger.- Das sieht heute anders aus.Ja, im Verlauf der Finanzmarktkrise und im Zuge der schleppenden Krisenbewältigung in Europa wurde viel Wirtschaftsentwicklung gedämpft. Es kam zu Fehlsteuerungen. Viele Unternehmen in Europa schalteten um auf kurzfristiges Management – in der Investitionspolitik oder in der Vertragslandschaft. Darunter hat der Sektor Bahn und Transport vergleichsweise stark gelitten. Der Bahnsektor ist heute nicht in der gleichen Verfassung wie vor zehn Jahren.- Was bedeutet das für die Branche und Ihr Unternehmen?Wir brauchen als VTG Impulse der verladenden Industrie, stärker zu investieren. Ferner benötigen wir eine Eisenbahnbranche, die in der Lage ist, ihre Anpassungen zu leisten, indem sie etwa in schnellere Transporte investiert. Um der Straße, um dem Lkw als Hauptwettbewerber Paroli zu bieten, muss die digitale Steuerung des Bahnverkehrs forciert werden. Wir brauchen eine Initiative, die schnellere Anpassungen in der Bahnwelt ermöglicht, um einen organischen Wachstumspfad, an dem auch die VTG partizipieren kann, zu entwickeln.- Von wem soll die Initiative denn ausgehen?Alle sind gefordert. Auf der jüngsten Branchenmesse Transport Logistic in München habe ich mit Güterbahnchefs gesprochen. Wir sind uns alle einig, was geschehen muss. Aber die Geschwindigkeit der Umsetzung ist mir persönlich viel zu gering. Die Politik als Eigner der großen Bahnen muss mehr tun, es müssen die Verlader mehr tun. Lippenbekenntnisse, dass sie ihre Güter gern per Bahn befördern, reichen nicht.- Inwiefern hängt die weitere Wachstumsstory der VTG ohne weitere Akquisitionen davon ab, dass sich hier mehr bewegt?Wir können nur unsere Hausaufgaben machen und versuchen, in einem stagnierenden Markt produktiver und profitabler zu werden. Das tun wir mit Erfolg. Aber es wäre natürlich schöner, wenn es eine europäische Wachstumsdynamik gäbe, von der auch die Schiene profitiert. Daran müssen wir als Branche und als Unternehmen VTG intensiv arbeiten.- Wo hakt es?Ich betrachte die Lage kritisch, aber nüchtern. Die Straße hat aus bestimmten Gründen einen kürzeren Innovationszyklus. Aber die Möglichkeiten, die sich die Straße für Förderungen erschließt, sind ja auch bekannt. Stichwort: Förderung von Elektromobilität. Der Schienengüterverkehr ist in weiten Teilen seit Jahrzehnten gelebte Elektromobilität. Allerdings schafft es der Bahnsektor weniger gut als die Auto- und Straßenverkehrslobby, sich Gehör zu verschaffen. Viele Dinge müssen gleichzeitig und sprunghaft erfolgen, deshalb stehen wir oft vor einem Hase-Igel-Problem. Es gelingt uns als Branche nicht, in einem Europa der vielen Geschwindigkeiten und der unterschiedlichen Staatsbudgets gemeinsam richtig nach vorn zu kommen. Dabei liegt die Zukunft des Schienengüterverkehrs doch in den längeren Strecken eines geeinten und größer werdenden Europa.- Geeintes und größer werdendes Europa?Wenn Sie auf den Brexit anspielen, der spielt da keine Rolle. Großbritannien war schon immer eine Insel und bleibt es auch. Für den Schienengüterverkehr ändert sich die Lage nicht.- Warum werden Sie nicht verstärkt in anderen Regionen außerhalb Europas aktiv?Das ist eine Diskussion, die es schon seit Jahren gibt – seit dem Einstieg mit unserer Waggonvermietung in den nordamerikanischen Markt und in Russland. Mit dem Tankcontainergeschäft waren und sind wir global unterwegs. Das war für uns auch immer wichtig, um Erfahrungen zu sammeln. Wir sehen Veränderungen in Produktionslandschaften und in den Rahmenbedingungen. Daher können wir uns in den beiden neben Europa wichtigsten Eisenbahnmärkten Nordamerika und Russland schon ein größeres Engagement vorstellen.- Was heißt das konkret?Die beiden Märkte sollen moderat an Bedeutung gewinnen. Wir können bei der Aufstellung der VTG den Kernmarkt Europa, der für uns Herz und Lunge gleichzeitig ist, aber nicht außer Acht lassen. In Europa haben wir eine gute Stellung, wir sind sehr profitabel. Aus dieser Position der Stärke wollen wir auch unter dem Aspekt der Risikostreuung anderswo größer werden. Unsere Ambitionen in Nordamerika, einem sehr reifen Markt, waren ja schon mal höher. Man muss allerdings auch mal Geduld haben. Waggonvermietung ist ein langlebiges Geschäft. Wichtig ist: Wir werden nichts Unvernünftiges machen.- Sie haben in diesem Jahr das 2015 definierte Gewinnziel für 2018 in Frage gestellt. Möglicherweise wird der Zielwert erst ein Jahr später erreicht. Warum?Die Umsatzerwartungen haben sich wegen der Schwächephase bei den Schienentransporten und dem geringeren Projektvolumen der Verlader nicht erfüllt. Daraus resultierend und durch das billige Geld ist es zu deflationären Tendenzen am Vermietmarkt gekommen. Das hat uns Umsatz gekostet. Zudem hatten wir durch Lärmsanierungen auch erhöhte Kosten im Radsatzbereich. Und auch die erhöhte Steuerquote kommt nicht so leicht auf ein Normalniveau von etwas über 30 % zurück. Diese Faktoren führen dazu, dass wir heute nicht ausschließen können, das Ziel eines Gewinns je Aktie von 2,50 Euro erst 2019 zu erreichen.- Sie haben für 2016 die Dividende um 50 % so stark wie noch nie seit dem Börsengang angehoben. Müssten Sie sich angesichts der Gewinnwarnung bei der Ausschüttung nicht bremsen?Nein. Nach der AAE-Übernahme hat es bei Ebitda und Cash-flow einen Sprung gegeben. Daraus lässt sich die Anhebung der Dividende ableiten.- Der Aktionärskreis der VTG hat sich im vergangenen Jahr stark verändert. Hat das Auswirkung auf Ihre Ausschüttungspolitik?Nein.- Sie binden sich bislang an keine feste Ausschüttungsquote. Warum nicht? Wird es die vielleicht irgendwann geben?Eher nicht.- Wäre das nicht ein Weg, um die Attraktivität der VTG-Aktie zu erhöhen?Wir zeigen, dass wir wachsendes Ergebnispotenzial haben. Wir wollen, was die Ergebnisentwicklung angeht, kein Jo-Jo-Unternehmen sein, sondern ein verlässlicher Dividendenzahler bleiben. Das passt besser zu unserem Geschäft als heute eine Sonderdividende zu zahlen und morgen gar nichts. Das kommt bei Wachstumswerten vor. Wir sind aber kein Start-up-Unternehmen.- Mit dem Morgan-Stanley-Infrastrukturfonds und der Kühne Holding hat die VTG seit 2016 neue Großaktionäre. Welche Erwartungen haben die an das Unternehmen?Wir haben in mehreren Stufen ein neues Aktionariat bekommen, das sich inzwischen vertrauter machen konnte mit dem Unternehmen. Derzeit wächst Vertrauen heran, das wir nicht enttäuschen wollen. Daher arbeiten wir weiter an der Verbesserung unserer Profitabilität.- Und wie stehen die neuen Anteilseigner derzeit zu weiteren größeren Akquisitionen?Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Zukäufe hängen immer auch von guten Gelegenheiten ab, die sich bieten.- Wie groß ist die Finanzkraft der VTG?Es sind Mittel da. Wir verfügen über die Möglichkeit, Kapital schnell zu erhöhen. Dadurch, dass wir in den vergangenen Jahren stark gewachsen sind, dass wir das Aktionariat verbreitert haben, dass wir die Marktkapitalisierung vergrößert haben, sind wir eher als früher in der Lage, größere Zukäufe zu stemmen – wenn es denn Sinn macht.- Sie realisieren Synergien aus der Übernahme der AAE, Sie profitieren von der großen Umfinanzierung von Bankverbindlichkeiten Ende 2015. Was kommt jetzt?Wir müssen Herausforderungen bewältigen, die sich aus dem laufenden Geschäft ergeben. Wir müssen Kosten senken, Prozesse neu definieren. Wir hoffen auch darauf, dass die Wirtschaft in Europa wieder mehr an ihr Potenzialwachstum herankommt. Wir wollen mehr Erträge realisieren und arbeiten weiter an einer Normalisierung unserer Steuerquote. Wir sind hier ja bis auf fast 40 % hochgelaufen.- Das ist alles nicht so spektakulär.Ja, aber das ist die Kärrnerarbeit des erfolgreichen Wirtschaftens. Und wir müssen auch die Gesundung der Logistikbereiche, insbesondere der Schienenlogistik, weiterverfolgen. Ich bin guter Dinge, dass uns die Logistik, in der wir kein zusätzliches Kapital in großem Stil brauchen, wieder mehr Rückenwind verschaffen wird. Die Erholung setzt sich Jahr für Jahr fort.- Es geht aber langsamer vorwärts als gedacht, oder?Eine Zeit lang ging es sicherlich etwas langsamer voran. Es war mehr Restrukturierung notwendig, als wir zunächst gedacht hatten. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Inzwischen können wir Quartal für Quartal zeigen, dass wir uns in der Schienenlogistik in die richtige Richtung bewegen.- Sind Änderungen in der Investitionsstrategie absehbar?Die Neuregelungen zum strikteren Lärmschutz und die Digitalisierung fordern uns natürlich. Der Lärmschutz, die Umrüstung der alten Wagen, kostet relativ viel Geld. Dabei handelt es sich um einen hohen zweistelligen Millionenbetrag, wenn man alles aufaddiert bis in die Mitte der 2020er. Dem stehen per se keine großen Erträge gegenüber. Die Digitalisierung kostet auch erst Geld. Mit unserer Digitalisierungsoffensive sorgen wir aber auch für Aufmerksamkeit. Das ist am Ende gut für das Geschäft.- Betrifft die Digitalisierungsinitiative auch Arbeitsplätze?Im produzierenden Bereich und in der Massenlogistik wären Befürchtungen eines größeren Stellenabbaus berechtigt. In einer Expertenorganisation wie bei uns sehe ich das in Summe eher nicht. Aber wir müssen intensiver an der Weiterqualifizierung arbeiten.- Die wachsenden Unsicherheiten in der weltwirtschaftlichen Entwicklung, eine Eisenbahnkonjunktur, die sich allenfalls langsam erholt: Warum sollten Anleger jetzt in die VTG investieren?Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir aufgrund unserer 2016 vorgestellten und implementierten Konzernstrategie VTG 4.0 unsere Wettbewerbsfähigkeit langfristig gestärkt haben. Dadurch konnten wir schon 2016 die negativen Effekte als Folge des stockenden globalen Handels und der Transportverlagerung von der Schiene auf die Straße im Zuge des günstigen Ölpreises und der reduzierten Lkw-Maut in Deutschland auffangen. Wir haben die Weichen gestellt, um die Schiene zum Rückgrat intelligenter Logistiklösungen zu entwickeln.- Was heißt das konkret?Wir werden in den kommenden Jahren 1,2 Mrd. Euro in die fortschreitende Modernisierung unserer Flotte und eine Vielzahl von Innovationen bei Waggons, Komponenten und neuen, auch digitalen Produkten investieren. Als eines der ersten Unternehmen in Europa statten wir beispielsweise unsere gesamte europäische Waggonflotte mit einem Telematiksystem aus. Dieses ist die Grundlage für digitale Servicedienstleistungen, mit denen wir Logistikprozesse optimieren und Transporte effizienter gestalten. Unseren Kunden ermöglichen wir damit Produktivitätssteigerungen.- Wie wahrscheinlich sind Änderungen Ihrer Finanzziele für 2017 im weiteren Verlauf des Jahres? Wie läuft das zweite Quartal?Wir sehen derzeit keinen Grund, von unserem Ziel – einer leicht positiven Umsatz- und Ebitda-Entwicklung verglichen mit 2016 – abzurücken.—-Das Interview führte Carsten Steevens.