DAS CFO-INTERVIEW - IM INTERVIEW: BERND METZNER

"Die Relevanz von Gerresheimer wird klarer"

Der Finanzvorstand über die Rolle als Produzent von Impfstofffläschchen und die Aussichten vernetzter Medizintechnik

"Die Relevanz von Gerresheimer wird klarer"

Herr Metzner, Gerresheimer ist zusammen mit Schott und der italienischen Stevanato in den Blickpunkt gerückt als Hersteller von Impfstofffläschchen. Wie viele Bestellungen hat Gerresheimer bisher in den Büchern und wie viele erwarten Sie?Uns liegen bisher feste Aufträge für 600 bis 700 Millionen Fläschchen für Corona-Impfstoffe vor. Unsere Kalkulation für die gesamte Nachfrage sieht so aus: Jährlich werden bisher – vor der Corona-Pandemie – weltweit etwa 10 Milliarden Impfstofffläschchen insgesamt in dieser besonderen Qualität – aus Borosilikatglas – produziert. Wir haben einen Marktanteil von etwa 30 % davon und produzieren 3 Milliarden Fläschchen. Wir gehen davon aus, dass in den nächsten 24 Monaten für die Corona-Impfstoffe 2,5 bis 3 Milliarden zusätzlicher Fläschchen benötigt werden im Zuge der Pandemie. Wir schätzen, dass wir von dieser Nachfrage etwa ein Drittel abdecken werden. Ist das nicht eher konservativ gerechnet?Wir können uns das natürlich schön rechnen und davon ausgehen, dass es mehr werden kann. Niemand weiß heute genau, wie oft man die Impfungen auffrischen muss. Man muss zusätzlich wissen, dass in ein Fläschchen oftmals mehrere Impfstoff-Einheiten abgefüllt werden. Kommen Sie hinterher und können die Nachfrage bedienen?Wir haben glücklicherweise schon vor der Pandemie in diesem Bereich investiert und tun dies auch 2020 und 2021. Wir haben auch immer eine gewisse freie Kapazität zur Verfügung. Mehr Schichten und Wochenendarbeit sind solche Optionen. Wie wird sich das auf Ihren Umsatz niederschlagen?Wir gehen von etwa 15 Mill. Euro zusätzlichem Umsatz pro Jahr aus. Das zeigt auch, dass Covid-19 nicht der entscheidende Punkt ist, der unser Unternehmen nachhaltig verändert. Man muss das anders sehen: Covid-19 ist ein Katalysator für die Frage, wie sensibel die Menschen mit ihrer Gesundheit umgehen. Viele fassen das erste Mal seit vielen Jahren wieder ihren Impfpass an. Die Nachfrage nach Grippeimpfungen steigt deshalb auch. Für die großen Pharmazeuten ist die gestiegene Bedeutung von Gesundheit und Vorsorge wie ein Türöffner. Und davon profitieren dann auch wir. Wie verhält sich Gerresheimer angesichts der hohen Nachfrage? Ziehen Sie die Preise für die Fläschchen an?Wir verhalten uns zurückhaltend. Wir sind an langfristigen Partnerschaften interessiert. Wir haben das intensiv diskutiert. In der Pandemie können wir beweisen, dass wir auch unter erschwerten Bedingungen unsere Qualität liefern können. Auf uns als Partner ist Verlass, das ist die Botschaft. Und damit bekommen wir Zugang zu ganz neuen Projekten unserer Kunden. Das ist unsere Kalkulation. Die Relevanz einer Firma wie Gerresheimer wird klarer. Wir sind in einer absoluten Nische, aber einer relevanten Nische – ein Hidden Champion und global agierender Mittelständler, der in einem weitgehend oligopolistischen Markt tätig ist. Wie erschwert waren denn die Bedingungen?Wir profitieren davon, nicht auf Strategieberater gehört zu haben, die unser Produktionsnetz mit 37 Werken global für zu ineffizient und zu wenig konzentriert hielten. Die lokale Präsenz hat sich aus logistischen Gründen in den vergangenen Monaten als großer Vorteil erwiesen. Von 9 000 Werkstagen bis heute während der Pandemie – gezählt von 37 Werken während gut acht Monaten – haben wir nur fünf Tage Ausfall gehabt. Sobald wir die Erfordernisse in der aktuellen Krise gemanagt hatten, also die Kontinuität der Produktion in unseren 37 Werken weltweit sichergestellt hatten, haben wir uns noch im April mit der Frage beschäftigt: Was kommt nach der Pandemie? Wie können wir uns langfristig richtig gut aufstellen? Und? Was ist die Erkenntnis?Wir haben uns mit der Spritzenstrategie bei uns im Haus beschäftigt. Uns ist noch stärker bewusst geworden, dass subkutane Darreichungsformen in Zukunft immer wichtiger werden. Die biotechnologisch erzeugten Wirkstoffe, die derzeit in großer Zahl entwickelt werden, werden in der Regel gespritzt. Bei diesen Biologics müssen wir nachschärfen. Mikropumpentechnologien, Spritzen, vernetzte Systeme – das sind enorm wichtige Themen. Wie steht Gerresheimer in diesem Markt heute da?Bei den biotechnologischen Medikamenten, die heute schon 40 % der Pharma-Blockbuster ausmachen, geht es vor allem um vorfüllbare Spritzen. Hauptwettbewerber ist Becton Dickinson, die mit etwa 60 % Marktanteil bei Weitem die Nummer 1 sind. Wir kommen an zweiter oder dritter Position und haben noch einen recht überschaubaren Marktanteil. Hier müssen wir den Trend mehr und entschiedener wahrnehmen. Wir werden uns hier verstärken. Wir wollen künftig als innovativer Lösungsanbieter wahrgenommen werden und nicht als “Fast Follower”. Wie weit sind da Ihre Planungen gediehen?Wir müssen mehr in die Kapazität investieren in den Bereichen, in denen wir glauben, dass der Markt deutlich wächst. Wir werden auf unserem Kapitalmarkttag am 8. Dezember einiges vorstellen. Wir sind ein unternehmerischer Vorstand, wir sind auf Wachstum ausgerichtet und wollen die Opportunitäten, die sich uns bieten, wahrnehmen. Wir werden das im Dezember mit Zahlen unterfüttern. Das Geschäftsjahr von Gerresheimer geht am 30. November zu Ende. Wie lautet ihr erstes grobes Fazit?Bei den Zahlen wird man sagen: Eigentlich ein gutes Jahr für Gerresheimer. Wir werden in unserem Kerngeschäft um rund 5 % wachsen, wenn man die Covid-Sondereinflüsse außen vor lässt – wie zum Beispiel die rückläufige Nachfrage in der Kosmetik, weil der Parfümmarkt in der Pandemie eingebrochen ist. Freuen Sie sich auf die Zahlen zu unserem vierten Quartal, die wir im Februar präsentieren. Wie sieht es bei Sensile Medical aus? Das war ja ein Zukauf und lief am Anfang ein wenig holprig. Die zwei ersten größeren Projekte waren gescheitert.Die Akquisition von Sensile Medical war strategisch genau der richtige Schritt. Man kann sich darüber streiten, ob der Kaufpreis der richtige war. Da haben wir im vergangenen Jahr ein Impairment gemacht. Aber das Potenzial ist enorm. Es kann ein echter Gamechanger für Gerresheimer werden. Wir haben in der Tat das ein oder andere Projekt verloren, aber auch einige Meilensteine geschafft. Das große laufende Projekt ist eine Mikropumpe, die wir für SQ Innovation zur Behandlung von Herzinsuffizienz entwickeln. Wir versprechen uns erste größere Umsätze im Jahr 2022. Hier liegen wir im Zeitplan. Sensile Medical ist für uns außerdem als Nukleus für unseren Einstieg in die vernetzte Medizintechnik von großer Bedeutung. Wir versprechen uns viel von unserer neuen Sparte Advanced Technologies. Woran arbeitet Gerresheimer dort noch?Wir entwickeln einen Smart Inhaler, der 2022 die Zulassung bekommen soll. Künftig sollen unsere Inhalatoren digital überwachen können, ob die Patienten ihre Medikamente regelmäßig und in der richtigen Dosierung einnehmen und welche Wirkung die Medikamente zeigen. Ähnliches gilt auch für unsere Projekte in Bezug auf Smart Pens. Und die Mikropumpe von Sensile ist bisher nur in der Lage, kleinere Moleküle zu spritzen. Für biotechnologische Wirkstoffe können wir die Pumpe noch nicht anwenden. Hier arbeiten wir an einer Weiterentwicklung. Dann hätten wir einen deutlich breiteren Anwendungsbereich. Welche finanziellen Erwartungen knüpfen sich daran?Finanzwirtschaftlich betrachtet haben wir das Thema in unserer Guidance nicht. Wenn wir einen Ausblick auf die nächsten Jahre geben, tun wir so, als wäre Advanced Technologies gar nicht da. Das ist wie eine Call-Option. Wenn die Projekte so erfolgreich werden, wie wir uns das vorstellen, sind wir mit unseren Kennzahlen auf einem anderen Niveau. Aber das Risikoprofil in dem neuen Geschäft ist ein anderes als in unserem Basisgeschäft. Welche Rückmeldung von Investoren bekommen Sie zur Ausklammerung von Advanced Technologies?Die Rückmeldung vom Kapitalmarkt ist, es nicht in unsere Guidance hineinzunehmen. Wenn es funktioniert, ist es toll, aber derzeit ist noch nichts sicher. Es ist jetzt wichtig, die nächsten Schritte zu machen. Haben wir bis Ende 2021 die Zulassung bei dem SQ-Innovation-Projekt? Kann unser Partner den nötigen Schwung im Vertrieb mitbringen? Einige Beobachter gehen im Blue-Sky-Szenario von einem Wert von bis zu 1 Mrd. Euro aus. Heute steht Advanced Technologies mit einem Wert von etwa rund 300 Mill. Euro in unseren Büchern. Das klingt alles sehr nach einem Fokus auf organisches Wachstum. Ist M&A für Gerresheimer ein Thema?Wir gucken uns alles an. Aber wir wollen nicht opportunistisch vorgehen, sondern nach einem ganz klar strukturierten Modell, das genau definiert, wo wir reingehen wollen. Wir bekommen jede Woche Angebote einschließlich vorgeschlagener Finanzierung. Passt es zu unserer Strategie und ist es wertsteigernd? Unsere Handlungsmaxime ist, dass wir bei unseren Investitionen eine deutlich höhere Rendite als unsere Kapitalkosten erwirtschaften. Unser interner Renditeanspruch liegt bei mindestens 15 %. Wir wollen also deutlich mehr erwirtschaften als wir an Kapitalkosten haben. Daran misst sich unsere Ressourcenallokation. Ein aktuelles M&A-Projekt, das so konkret wäre, das ich darüber reden könnte, haben wir derzeit nicht. Aber wir screenen den Markt und schauen uns Assets an. Und wenn wir etwas fänden, was uns auf ein anderes Level heben würde und wirklich zu uns passt, würden wir auch Mittel und Wege finden, das darzustellen. Die Finanzierung macht Ihnen keine Sorgen?Wir haben kürzlich einen Schuldschein aufgelegt, der ursprünglich mit 150 Mill. Euro geplant war. Wir haben das Volumen wegen der hohen Nachfrage auf 325 Mill. Euro ausgeweitet, zu sehr attraktiven Konditionen. Wir haben jetzt 1,3 Mrd. Euro Finanzierungsraum, genutzt haben wir davon 1,1 Mrd. Euro. Zwei Drittel von dem Finanzierungsraum basiert auf Schuldscheinen, ein Drittel auf einer Kreditfazilität. Die Investitionen, die anstehen, können wir durch unseren eigenen organischen Cash-flow finanzieren und werden trotzdem noch eine gute Dividende zahlen. Die Verschuldungsquote von Gerresheimer ist nicht gering.Wir haben eine Verschuldung zwischen dem 3- und 3,5-fachen des Adjusted Ebitda. Das ist nicht wenig. Aber wir sind sehr stabil und widerstandsfähig. Wir haben ein niedriges Risikoprofil, so dass unser Verschuldungsgrad eigentlich kein Problem ist. Wir müssen aber schon auf absehbare Zeit mit unserer Verschuldung runterkommen, weil uns damit mehr Möglichkeiten offen stehen, auch was Zukäufe angeht. Welches Verschuldungsziel streben Sie an?Ich würde mittelfristig gerne auf 2,5 bis 3 reduzieren. Das Interview führte Antje Kullrich.