Im InterviewMaike Schuh

Evonik lässt sich nicht von externen Forderungen treiben

Die schwierigen Rahmenbedingungen machen Evonik einen Strich durch die Verkaufspläne. "Aber ich werde mich nicht von externen Forderungen treiben lassen, dass ich das energieintensive Geschäft unbedingt kurzfristig loswerden muss", macht Finanzchefin Maike Schuh den Punkt im Interview der Börsen-Zeitung.

Evonik lässt sich nicht von externen Forderungen treiben

IM INTERVIEW: MAIKE SCHUH

Evonik lässt sich nicht von Investoren treiben

Verkauf der C4-Chemie liegt auf Eis – Finanzchefin: Methionin ist als Finanzierungsgeschäft total wichtig – Deutlicher Vorratsabbau für den Cashflow

Evonik hatte sich für 2023 ein großes Desinvestitionsprogramm vorgenommen. Während der Verkauf des Baby-Care-Geschäfts auf der Zielgeraden ist, liegt die Trennung von der C4-Chemie auf Eis. Ein "Firesale" kommt für Finanzchefin Maike Schuh jedoch nicht in Frage.

Frau Schuh, Evonik hat im März den Startschuss für die Desinvestitionen der Geschäfte des Segments Performance Materials gegeben. Ganz vorn auf der Rampe steht das Baby-Care-Geschäft. Wie weit sind Sie?

Wir liegen in den letzten Zügen. Jetzt kommen die Vertragsverhandlungen. Aber wir wissen, dass sich solche Verhandlungen in die Länge ziehen können. Ich bin an dieser Stelle wesentlich ungeduldiger als die Juristen. Die setzen auf Gründlichkeit und nicht auf Schnelligkeit. Aber wir sind auf der Zielgeraden.

Schwieriger als die Superabsorber dürfte sich das Geschäft mit der C4-Chemie losschlagen lassen. Sie wollten noch in diesem Jahr für Klarheit sorgen.

Es gibt Klarheit darüber, dass wir in diesem Jahr nicht verkaufen. C4 in dieser gesamtwirtschaftlich schwierigen Lage zu verkaufen, würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu dem gewünschten Veräußerungserlös führen. Ein Firesale ist nicht erforderlich, denn das Geschäft hat auch in diesem Jahr eine solide Cashfunktion für uns. Wann genau es verkauft wird, weiß ich nicht. Wir könnten den Startschuss sehr schnell geben, haben den Bieterprozess aber noch nicht offiziell gestartet.


Zur Person

Seit April dieses Jahres sitzt Maike Schuh im Vorstand des Chemiekonzerns Evonik. Hat sie zunächst damit gefremdelt, im obersten Stockwerk der wuchtigen Essener Firmenzentrale zu residieren, weil sie damit weit ab von ihrem Team sitzt, scheint sich die 49-Jährige inzwischen mit dem Vorstandsdasein arrangiert zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass ihr der Teamspirit abhandengekommen wäre. Gleichwohl ist die aus dem Taunus stammende Managerin überaus zielstrebig und ergebnisorientiert unterwegs.

Nach dem Karrierestart im Steuerteam von KPMG wechselte sie 2002 zur Heraeus Holding in Hanau, wo sie verschiedene Führungspositionen innehatte. 2015 ging sie ins Accounting von Evonik, bevor sie in die Division Performance Materials wechselte, zunächst als Finanzchefin, seit Juli 2022 als Spartenchefin.  


Es verbietet sich, in den Abschwung hinein zu verkaufen. Zugleich drängt die Zeit unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten. Wie gehen Sie mit dieser Gratwanderung um?

Wir haben dieses Geschäft nicht wegen seiner CO2-Bilanz zum Verkauf gestellt. Es ist ein volatiles Geschäft mit hohen Ausschlägen im Ab- und im Aufschwung. Von daher wird auch für die C4-Chemie wieder ein anderes Preisniveau darstellbar sein.

Der ESG-Aspekt spielt aber doch auch eine Rolle. Die CO2-Emissionen auf der vorgelagerten Stufe sind ja nicht gerade gering.

Das stimmt. Aber in dem Geschäftsbereich gibt es sehr viele Projekte und erfolgreiche Forschungsvorhaben zum Beispiel bei den Oxo-Alkoholen, wie diese gesenkt werden können – und zwar erheblich. Und ein Verkauf durch Evonik heißt ja nicht, dass die CO2-Emissionen dann verschwinden. Grundsätzlich muss sich die Industrie in ihrer Gesamtheit überlegen, wie sie die Emissionen reduzieren kann. Es hilft dem Klima nicht, wenn ich als Evonik mich besserstelle.

Ein Verkauf durch Evonik heißt ja nicht, dass die CO2-Emissionen dann verschwinden. Grundsätzlich muss sich die Industrie in ihrer Gesamtheit überlegen, wie sie die Emissionen reduzieren kann.

Maike Schuh

Ihre Investoren dürften das anders sehen, oder?

Ja. Aber ich werde mich nicht von externen Forderungen treiben lassen, dass ich das energieintensive Geschäft unbedingt kurzfristig loswerden muss. Natürlich fragen die Investoren nach. Aber es handelt sich um ein starkes Geschäft. Es stünde uns schlecht zu Buche, wenn wir es unter Wert verkaufen würden.

Sie hatten den Goodwill des Geschäfts schon im Abschluss 2022 auf null abgeschrieben. Drohen weitere Wertkorrekturen?

Wir sehen heute keine weiteren Abschreibungen für dieses Geschäft. Wir produzieren dort auf fast abgeschriebenen Anlagen. Weitere Abschreibungen wären also sehr unwahrscheinlich.

Wo befinden sich die Produktionsstandorte dieses Geschäfts?

Wir produzieren in Antwerpen und in Marl. Das Geschäft ist international, was die Produktströme angeht. Aber die Produktion findet an unseren Verbundstandorten statt. C4-Chemie ist nahe am Cracker. Die Cracker werden auf die Zielprodukte Ethylen und Propylen gesteuert. Die anfallenden C4-Nebenströme kommen über Pipelines zu uns und werden in verschiedenen Wertschöpfungsstufen innerhalb des Verbundes nahezu vollständig weiterverarbeitet.

Breite Investorenansprache

Ein Zukunftsgeschäft ist es aber nicht mehr?

Ich würde das C4-Geschäft nicht unterschätzen, denn auch dieses entwickelt sich weiter. Ich wäre vorsichtig zu sagen, in 30 Jahren gibt es keine C4-Chemie mehr. Das haben in den vergangenen 30 Jahren auch schon viele behauptet – zu Unrecht.

Wo verorten Sie Interessenten für dieses Geschäft?

Wir wollen ein breites Feld aus Private Equity und Strategen ansprechen. Das ist einer der Gründe, warum wir den Bieterprozess noch nicht gestartet haben. Private Equity agiert momentan sehr vorsichtig, und strategische Investoren warten ab, wie sich 2024 anlässt.

Das Methioningeschäft steht zwar nicht offiziell zur Disposition. Das Geschäft mit Futtermittelzusatzstoffen hat Evonik aber schon so manches Mal einen Strich durch die Ertragsrechnung gemacht. Ist das der nächste Verkaufskandidat?

In Methionin haben wir in der Vergangenheit viel investiert. Wir sind global vertreten. Das passt gut zu unserem globalen Footprint. In den USA und Singapur haben wir gerade in dreistelliger Millionenhöhe investiert, in Rückwärtsintegration und in Kostenpositionen. Jetzt zu sagen, wir wollen aussteigen, ergäbe keinen Sinn. Es ist ein schönes, wenngleich volatiles Geschäft. Wir stellen das Geschäft jetzt anders auf, weil es sich in weiten Teilen kommoditisiert hat.

In Methionin haben wir in der Vergangenheit viel investiert. (...) Jetzt zu sagen, wir wollen aussteigen, ergäbe keinen Sinn.

Maike Schuh

Sie restrukturieren das Geschäft gerade. Haben Sie die Kostenführerschaft verloren?

Im Augenblick sind wir zu teuer. Wenn sich Geschäfte kommoditisieren, müssen wir in diesen Bereichen Kosten rausnehmen. Ich bin mir sicher, dass uns das Geschäft dann wieder sehr viel Spaß machen wird.

Aber wie passt es zusammen, dass sie an Massengeschäften festhalten, wenn Sie zugleich ein reinrassiger Spezialchemiekonzern sein wollen?

Erst einmal: Unser Geschäftsbereich Animal Nutrition umfasst auch Spezialitäten. Diesen Teil des Geschäftes führen wir auch entsprechend und werden dort wachsen. Um aber in der Spezialchemie noch mehr investieren und noch schneller wachsen zu können, brauche ich Cash Cows. Für den Ausbau der Spezialchemie – beispielsweise für die Lipidproduktion in den USA – brauche ich Geld. Das kommt aus unseren Cash Cows. Methionin ist als Finanzierungsgeschäft total wichtig. Es ist entscheidend, im Portfolio Ausgewogenheit zwischen Wachstums- und Finanzierungsgeschäften zu haben.

Im Herbst haben Sie angekündigt, das Segment Technologie und Infrastruktur aufzuteilen und die Chemieparks zu verselbständigen. Wie schnell stellen Sie die Chemieparks zum Verkauf?

Ob wir die Chemieparks verkaufen oder nicht, steht heute wirklich nicht zur Debatte. Tatsache ist, wir stellen Antwerpen, Wesseling und Marl als eigenständige Legaleinheiten auf und prüfen anschließend alle Optionen. Dass wir als Chemiekonzern nicht unbedingt Chemieparks betreiben müssen, das stimmt. Es kann bessere Eigentümer geben. Aber jetzt strukturieren wir das Segment erst einmal um.

Blick auf den Chemiepark Marl, den Evonik verselbständigen will. Bildquelle: picture alliance / ANP | Vincent Jannink

In der Vergangenheit waren Infrastrukturfonds die geborenen Investoren für Assets wie Chemieparks. Ist das heute auch noch so?

Völlig unabhängig von unserem Projekt gibt es Chemie und Infrastruktur. Chemie bewegt sich ja nicht weg. Wir haben gut gemanagte Chemieparks, große Anlagen und einen ganz stabilen Wertefluss. Von daher bin ich überzeugt, dass es Interesse von Infrastrukturfonds gibt.

Wird sich das angesichts der Debatte über die schwindende Wettbewerbsfähigkeit der Chemie am Standort Deutschland nicht zwangsläufig ändern?

Wir haben uns kürzlich angeschaut, wie viele Unternehmen es gab, die sich alleine im laufenden Jahr für Investitionen im Chemiepark Marl interessierten. Das waren mehr als über die letzten Jahre. Vom Grundsatz her ist es so, dass sich Chemieproduktion gerne in bestehenden, gut gemanagten Chemieparks ansiedelt. Das wird auch künftig so sein.

Ein Jahr später heißt der Controller dann Business Analyst und steht wieder auf der Payroll, und die Kosten schießen wieder nach oben.

Maike Schuh

Evonik hat ein Programm zur Verschlankung der Verwaltungsstrukturen angekündigt. Können Sie heute schon sagen, wie viele Stellen wegfallen?

Wir hatten 2022 allgemeine Verwaltungskosten von rund 550 Mill. Euro. Ich bin seit acht Jahren bei Evonik und habe seither zwei Verschlankungsprogramme mitgemacht. Das funktioniert ja so, dass Stellen rausgenommen werden und Arbeit verdichtet wird. Ein Jahr später heißt der Controller dann Business Analyst und steht wieder auf der Payroll, und die Kosten schießen wieder nach oben. Solche Projekte führen also nur kurzfristig zum Erfolg: Das letzte Kostensenkungsprogramm brachte uns Einsparungen von mehr als 200 Mill. Euro. Dieses Mal wollen wir es anders machen, mit dauerhafter Wirkung, und genau bestimmen, in welcher Gestalt unsere Verwaltung am besten aufgestellt wäre. Nur dann können wir wissen, wo derzeit zu viele Menschen arbeiten und sich mehr mit sich und der Struktur beschäftigen als mit der Unterstützung der Chemie-Geschäfte.

Sind die Kosten jetzt wieder da?

Ja, die sind zum Großteil wieder da. Daher der neue Ansatz. Aber diesmal gehen wir nicht über eine Verdichtung von Arbeit. Unsere Matrix ist heute nicht gut genug definiert. Daher haben wir ein Projektteam gebildet, das tief in diese Matrix schaut: Welche Tätigkeiten müssen wir ausbauen? Welche sind verzichtbar oder stringenter zu organisieren? Wir sind weder Bank noch Steuerberater. Wir haben die notwendige Governance, und der ganze Rest muss für die Geschäfte da sein. Das heißt, die Divisionen müssen in der Lage sein, günstig einzukaufen, teuer zu verkaufen und die richtigen Steuerungsmodelle haben. Alles andere brauchen wir nicht.

Es gibt eine Menge Wildwuchs und Komplexität.

Maike Schuh

Das hört sich gut an, aber dadurch wird die Arbeit doch nicht weniger. Wo nehmen Sie Arbeit raus?

Wir machen viel Doppelarbeit. Nur ein Beispiel: Evonik hat irgendwann entschieden, ich brauche keine Regionensteuerung. Trotzdem haben wir in den Regionen eine ziemlich weitgehende Steuerung. Es gibt eine Menge Wildwuchs und Komplexität.

Geht es in dem Tailor-Made-Ansatz vor allem um einen Abbau im Mittelmanagement?

Wir haben bis zu zehn Führungsebenen im Konzern und im Durchschnitt vier bis fünf Direct Reports pro Führungskraft. Wir haben also relativ viele Führungskräfte, die wiederum nur eine Handvoll Mitarbeiter managen. Zielgröße ist ein Durchschnitt von sieben. Das bedeutet, wir werden Führungsebenen herausnehmen.

Antizyklisch investieren

Werden solche Projekte jetzt aufgesetzt, weil Sie selbst aus der Division kommen?

Das Projekt kommt nicht von mir allein. Es ist ein Vorstandsprojekt. Das muss man als Gesamtvorstand machen wollen. Simple Kostenprogramme wären einfacher – aber eben nicht sinnvoller.

Angesichts der Krise haben Sie die Investitionen zurückgefahren und wollen diesen Kurs auch 2024 beibehalten. Berauben Sie sich damit nicht der Zukunftsperspektiven?

Darüber diskutieren wir im Vorstand am meisten. Als Finanzer bin ich natürlich sehr vorsichtig und frage – ich übertreibe jetzt: „Brauche ich überhaupt Investitionen?“ Der COO sagt dagegen, ebenso zugespitzt: „Wir müssen auch antizyklisch investieren.“ Einerseits wollen wir die Nettofinanzverschuldung nicht verschlechtern, denn ich will nicht ansatzweise das Investment-Grade-Rating in Gefahr bringen. Andererseits brauchen wir angesichts einer Kapazitätsauslastung zwischen 70% und 80% derzeit keine Erweiterungsinvestitionen in bestehende Anlagen. Daher können wir uns auf Investitionen in Wachstumsmärkte wie die Lipide konzentrieren. Zusätzliche Kapazität brauchen wir erst einmal nicht. Aber – wenn ich heute investiere, geht die Anlage ja erst in drei Jahren in Betrieb. Zu diesem Thema gibt es verschiedene Auffassungen, die alle berechtigt sind. Es ist aber wesentlich, dass wir uns gegenseitig immer hinterfragen.

Welcher Anteil der Investitionen – sie haben das Budget in diesem Jahr von 950 auf 850 Mill. Euro gekürzt – entfällt auf die Instandhaltungsinvestitionen?

Das schwankt natürlich von Jahr zu Jahr. Bezogen auf die 850 Mill. Euro sind es unter 50%, aber es geht in die Richtung.

Wenn die Verkäufer plötzlich zehn Taschenlampen und nicht nur eine kleine Funzel am Ende des dunklen Tunnels sehen, dann müssen wir die Produktion hochfahren.

Maike Schuh

Sie haben den freien Cashflow trotz Ergebniseinbruchs mit Verweis auf „aktives Net Working Capital Management“ ausgebaut. Was heißt das?

Das ist vom Ansatz her ganz einfach. Auf der einen Seite schauen wir uns die überfälligen Forderungen an. Ziel ist es, deren Anteil möglichst gering zu halten. Er liegt bei uns unter 5%. Auf der anderen Seite haben wir die Vorräte, das ist das Aktivste, deutlich runtergefahren. Ich muss aufpassen, dass ich vor der Welle bin. Wir haben die Vorräte schon im dritten Quartal auf ein niedriges Niveau heruntergebracht.

Damit erhöhen Sie aber das Risiko, nicht lieferfähig zu sein.

Das ist so, das ist immer eine Abwägungssache. Wir müssen uns extrem eng mit dem Verkauf abstimmen. Wenn die Verkäufer plötzlich zehn Taschenlampen und nicht nur eine kleine Funzel am Ende des dunklen Tunnels sehen, dann müssen wir die Produktion hochfahren. Das ist eine sehr kleinteilige Arbeit, die tief in den Divisionen stattfindet. Das Risiko muss ich als Vorstand nehmen.

Aufgrund der Aktionärsstruktur können sie die Dividende nicht kürzen, denn die Mehrheitsaktionärin RAG-Stiftung ist auf die Ausschüttung angewiesen. Rächt sich das langfristig?

Den Cashflow erwirtschafte ich nicht nur für die Dividende, sondern das ist die Kernzahl, wenn ich nach Cash steuere. Zur Dividende: Wir haben ja nicht nur die RAG-Stiftung als Aktionär. Wir versprechen eine stabile Dividende, Evonik ist ein Dividendenpapier. Daher müssen wir uns anstrengen, dass wir immer ein Ergebnis erreichen, dass wir nicht aus den Rücklagen ausschütten müssen.  

Warum lassen Sie nicht zu, dass die Dividende mit dem Ergebnis atmet?

Es wird nicht funktionieren, dass der Aktienkurs zurückgeht und zugleich die Dividende gekürzt wird. Das machen die Investoren nicht mit. Im vorigen Jahr haben wir auch aus den Gewinnrücklagen geschüttet, aber da hatten wir eine buchhalterische Sondersituation. Grundsätzlich bin ich bei Ihnen, wir können nicht lange aus den Rücklagen ausschütten. Wir müssen uns so aufstellen, dass wir aus dem Bilanzgewinn ausschütten können. Das ist eines meiner ganz klaren Ziele.

Das Interview führte Annette Becker.