WACHSTUM IN ZEITEN DER DISRUPTION - KÖPFE DES JAHRES

Fehlstarter

jh - Seine ersten Monate als Aufsichtsratsvorsitzender von Linde sind Wolfgang Reitzle (67) gründlich misslungen. Zum großen Teil verschuldete dies der frühere Vorstandschef des Münchner Industriegasekonzerns selbst. Denn für gute...

Fehlstarter

jh – Seine ersten Monate als Aufsichtsratsvorsitzender von Linde sind Wolfgang Reitzle (67) gründlich misslungen. Zum großen Teil verschuldete dies der frühere Vorstandschef des Münchner Industriegasekonzerns selbst. Denn für gute Unternehmensführung bewies er erstaunlich wenig Gespür: ob es um die Investmentbankboutique Perella Weinberg ging oder um Aktienkäufe. Für die – in der ersten Runde gescheiterten – Fusionsgespräche mit dem amerikanischen Konkurrenten Praxair lässt sich Linde ausgerechnet von Perella Weinberg beraten. Bis unmittelbar davor war Reitzle selbst Berater des Finanzdienstleisters gewesen. Und er kaufte im Juni für eine halbe Million Euro Linde-Aktien – obwohl schon intern über Praxair diskutiert wurde, der Öffentlichkeit dies aber noch nicht bekannt war.Von 2002 bis Mai 2014 war der frühere Automanager Konzernchef von Linde gewesen. Für seine Strategie, das Unternehmen im Gasegeschäft an die Weltspitze zu führen, wurde Reitzle noch auf der Hauptversammlung im Mai 2016 gefeiert – als “Erfolgsgarant in der letzten Dekade”. Dass er mit knapp 93 % Ja-Stimmen in den Aufsichtsrat gewählt wurde, ließ aber erkennen, dass ein Teil der Aktionäre nicht mit seiner Rückkehr zu Linde einverstanden ist. Zu lange zugeschautAuf der Hauptversammlung 2017 könnte Reitzle trotz allem gefeiert werden. Denn die Chancen stehen gut, dass der zweite Anlauf zu einer Fusion mit Praxair gelingt. Anlass zur Kritik am Aufsichtsratschef gibt es trotzdem – nicht nur weil er sich offenbar wenig um Corporate Governance schert. Dem Zerwürfnis zwischen dem mittlerweile zurückgetretenen Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Büchele und Finanzchef Georg Denoke hatte er zu lange zugeschaut und war mit einem zerstrittenen Führungsteam in die ersten Gespräche mit Praxair gegangen. Wichtiger war Reitzle anscheinend, früh den Posten als Oberaufseher und Chairman eines fusionierten Konzerns für sich zu beanspruchen. Das wird ihm auch gelingen, wenn es zu einem deutsch-amerikanischen Zusammenschluss kommt.Das würde nebenbei Reitzles Personalprobleme auf einen Schlag lösen. Der reaktivierte Vorstand Aldo Belloni übernahm von Büchele bis Ende 2018 den CEO-Posten von Linde. Im gemeinsamen Konzern stünde Praxair-Chef Stephen Angel an der Spitze, und auch der Stuhl des Finanzvorstands ist für die Amerikaner reserviert. Linde-CFO Denoke hatte im September gehen müssen. Einen Vorstand für die Region Amerika bräuchte Linde nicht mehr. Dieser Posten ist vakant, da Thomas Blades Konzernchef von Bilfinger wurde. Für Reitzles Ruf steht viel auf dem Spiel: Ein nochmaliges Scheitern der Verhandlungen mit Praxair wäre fatal.