Für Niedersachsen ist Volkswagens „Dieselgate“ nicht abgehakt
Für Niedersachsen ist Volkswagens „Dieselgate“ nicht abgehakt
Neuer Ministerpräsident und VW-Aufsichtsrat Lies hält ähnlichen Skandal aber für deutlich weniger wahrscheinlich – Dieselantrieb immer weniger gefragt
Von Carsten Steevens, Hamburg
Abgehakt sei der Dieselskandal nicht, betont Olaf Lies, seit Mai Ministerpräsident von Niedersachsen, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Der SPD-Politiker, für das mit 20% an Volkswagen beteiligte Land nun erneut Mitglied im Aufsichtsrat von Europas größtem Autobauer, muss das so sagen. Zwar spielen die Abgasmanipulationen des Wolfsburger Konzerns, die die US-Umweltschutzbehörde EPA am 18. September vor zehn Jahren aufdeckte, in der Öffentlichkeit heute kaum noch eine Rolle. Zahlreiche Rechtsverfahren in verschiedenen Jurisdiktionen wurden abgeschlossen. Die Klage von Investoren im Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig gehört zu den relevanten noch laufenden Verfahren. Doch auch in Hauptversammlungen des Unternehmens taucht „Dieselgate“ inzwischen nur noch am Rand auf.
Angespannte Ertragslage
Die Erinnerung an den Skandal, der VW durch Vergleichszahlungen an Kunden, Strafen und Bußgelder sowie Rechtsverteidigungskosten mit über 33 Mrd. Euro belastet hat, sollte jedoch besser nicht verblassen. Die Ertragslage traditioneller Autohersteller ist angespannter als vor einer Dekade, VW kämpft mit hohen Kosten im Heimatmarkt. Die Frage, wie massive Investitionen in Zukunftstechnologien finanziert werden sollen, verlangt dringlich Antworten – auch wegen forscher neuer Konkurrenz aus China.
Dass sich ein Betrugsfall in der Dimension der Abgasmanipulationen erneut ereignen könnte, schließt Lies auch nicht aus. Es gebe wie in jeder Branche ein Restrisiko. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Fall noch einmal möglich wäre, sei aber „deutlich gesunken“, fügt der 58-Jährige hinzu, der als Mitglied des Aufsichtsratspräsidiums dem inneren Machtzirkel von VW angehört. Entscheidend seien eine Unternehmenskultur, die Fehler aufarbeitet, klare, digital-gestützte Compliance-Systeme sowie eine Regulierung, die auf Realfahr-Tests und konsequente Marktüberwachung setzt. „Wenn Branche, Aufsicht und Politik hier zusammenwirken, lässt sich das Risiko minimieren.“
Neue Skandalfälle möglich
Volkswagen, so sieht Lies es, habe Lehren gezogen, Compliance-Strukturen geschärft, Kontroll- und Prüfmechanismen digitalisiert und Verantwortlichkeiten klar gezogen. Heute seien Realfahr-Messungen, Whistleblower-Systeme und manipulationssichere Softwareprüfungen Standard. „Für Niedersachsen als Anteilseigner und Standort bedeutet das: Wir können Vertrauen nur zurückgewinnen, wenn die Systeme so robust sind, dass solche Manipulationen möglichst ausgeschlossen sind.“
Auch Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Skandalfälle für weiterhin möglich. Immer dann, wenn System und Organisation einer Unternehmung so angelegt seien, dass Anpassungen an den Wettbewerb nicht zu schaffen sind, bestehe ein großes Risiko, Gesetze zu übertreten. Für ein Risiko hält Dudenhöffer explizit die „Verfassung von VW“ mit dem Vetorecht des Landes Niedersachsen im Verbund mit einer starken IG Metall. Hier habe man „absolut nichts gelernt“.
In einem internen Mitarbeiterschreiben anlässlich des zehnten Jahrestags der EPA-Veröffentlichung, das dieser Zeitung vorliegt, heißt es, die Dieselkrise habe „das Unternehmen, seine Kultur und viele Beschäftigte persönlich tief erschüttert“. Die Enthüllungen hätten weltweite Aufmerksamkeit erregt und das Kundenvertrauen in den VW-Konzern, seine Marken und Produkte „massiv beschädigt“.
Imagewirkungen, so Dudenhöffer, seien heute aber nicht mehr vorhanden. VW habe deutlich umgesteuert und unter den deutschen Herstellern das Elektroauto am schnellsten in Angriff genommen. „Das Elektroauto hat VW geholfen, wieder Glaubwürdigkeit aufzubauen.“ Auch deshalb dürfe der Konzern jetzt nicht nach einem Aus für das Verbrenner-Verbot in der EU ab 2035 rufen.
„Scheindebatte“
VW-Aufsichtsrat Lies spricht von einer „Scheindebatte“. Das Jahr 2035 bleibe „die Zielmarke“ für eine emissionsfreie Neuwagenflotte. Planungssicherheit sei Grundlage für Investitionen. „Zugleich müssen wir den Weg dorthin vom Ziel her denken.“ In der neu entfachten Debatte über das Verbrenner-Aus mahnt Niedersachsens Regierungschef mit Verweis auf den schwächelnden Absatz von E-Fahrzeugen und Verbrennern Flexibilität in der CO2-Regulierung an. Um den Autostandort Deutschland international wieder nach vorn zu bringen, müsse jetzt „mit neuem Realismus“ nachjustiert werden.
Batterieelektrisches Fahren bleibe Leittechnologie, E-Fuels und Biokraftstoffe seien eine gezielte Ergänzung dort, wo vollelektrische Fahrzeuge heute an systemische Grenzen stoßen. Neuzulassungen von Verbrenner-Fahrzeugen müssten zugleich über 2035 hinaus zulässig bleiben, sofern sie zur Erreichung der Klimaziele beitragen und Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. „So sichern wir Beschäftigung, halten Wertschöpfung im Land und erreichen unsere Klimaziele ohne Brüche in der Industrie“, sagt Lies.
EU-Kommission prüft eher
Die EU-Kommission hatte in der Vorwoche signalisiert, die erst für 2026 geplante Überprüfung der CO2-Grenzwerte für Autos um ein Jahr vorzuziehen. Überdacht wird, ob auch nach 2035 noch Neufahrzeuge mit Benzin- und Dieselmotoren in großer Stückzahl zugelassen werden dürfen.
Relevant gilt der Diesel indes neben Bestandsfahrzeugen nur noch im Güterverkehr und bei hohen Laufleistungen. Sein Anteil an den Pkw-Neuzulassungen in Deutschland halbierte sich in den vergangenen zehn Jahren nach Daten des Kraftfahrt-Bundesamts von rund 48% auf unter 24%.