Für Niedersachsen sind die Lehren gezogen
Für Niedersachsen sind die Lehren gezogen
Im Interview: Olaf Lies
„Der Skandal war ein tiefer Einschnitt"
Niedersachsens Ministerpräsident: Wahrscheinlichkeit eines neuen Falls wie Volkswagens Dieselabgasaffäre deutlich gesunken
Herr Lies, die EU-Kommission überdenkt das Verkaufsverbot für Neufahrzeuge mit Benzin- und Dieselmotoren ab 2035. Sie gehören als Ministerpräsident von Niedersachsen dem Volkswagen-Aufsichtsrat an. Hielten Sie eine Rücknahme oder Aufweichung des Verbrennerverbots in der EU für richtig?
2035 für eine emissionsfreie Neuwagenflotte bleibt die Zielmarke – Planungssicherheit ist die Grundlage für Investitionen. Zugleich müssen wir den Weg dorthin vom Ziel her denken: Der Absatz von E-Fahrzeugen genauso wie der Verbrennerabsatz schwächelt. Gleichzeitig ist die Automobilindustrie ein Fundament für Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland. Wir sind Auto-Produktionsland, wir sind Auto-Qualitätsland und wir sind Auto-Innovationsland. Unser Ziel muss sein, dass Deutschland wieder in die internationale Poleposition zurückkommt. Daher ist jetzt die Zeit, mit neuem Realismus nachzujustieren.
Was meinen Sie damit?
Batterieelektrisches Fahren bleibt Leittechnologie. E-Fuels und Biokraftstoffe sind eine gezielte Ergänzung – kein Ersatz –, dort, wo BEV (vollelektrische Fahrzeuge) heute an systemische Grenzen stoßen. Und auch Neuzulassungen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren waren und bleiben über 2035 hinaus zulässig, sofern sie zur Erreichung der Klimaziele beitragen und klare Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Damit steht unmissverständlich: Es gibt kein Verbrennerverbot ab 2035 – diese Scheindebatte gehört beendet.
Nicht alle Top-Manager in der Autoindustrie stellen ein Verbrenner-Aus 2035 in Frage, um die kriselnde Branche zu entlasten. Audi-Chef Gernot Döllner etwa hält Elektroautos für überlegen und nennt die Diskussion über die Zukunft der Verbrenner „kontraproduktiv“.
Wir müssen beides zusammenbringen: eine maximale Offensive für Elektromobilität und eine evidenzbasierte, technikfreundliche Ergänzung für die Bereiche, in denen vollelektrische Fahrzeuge heute noch an Grenzen stoßen. So sichern wir Beschäftigung, halten Wertschöpfung im Land – und erreichen unsere Klimaziele ohne Brüche in der Industrie.
An diesem 18. September jährt sich zum 10. Mal die Offenlegung der Dieselabgasmanipulationen von Volkswagen durch US-Behörden. Welche Relevanz hat der Dieselantrieb?
Kurzfristig bleibt der Diesel noch relevant – im schweren Güterverkehr, bei hohen Laufleistungen und natürlich im Bestand. Zugleich erleben wir im Neuwagenmarkt einen klaren Schwenk in Richtung Elektromobilität. International läuft dieser Wandel unterschiedlich schnell: Europa und China sind Treiber, andere Regionen – etwa Teile Nord- und Südamerikas – folgen zeitversetzt. Für Deutschland und gerade für Niedersachsen heißt das: Wir müssen die Ladeinfrastruktur massiv ausbauen, die Strompreise für Industrie und Mobilität wettbewerbsfähig halten und gleichzeitig den Bestand mit synthetischen und biogenen Kraftstoffen sauberer machen. So können wir zugleich die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen sichern und die Akzeptanz bei den Menschen gewährleisten.
Der Dieselskandal spielt in der Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle. Auch in Hauptversammlungsdebatten von Volkswagen taucht er allenfalls noch am Rand auf. Ist „Dieselgate“ für das Land Niedersachsen abgehakt?
Der Skandal war ein tiefer Einschnitt – für das Unternehmen, für die Beschäftigten und auch für uns als Anteilseigner. Abgehakt ist er nicht, aber die Lehren sind gezogen. Volkswagen hat Strukturen und Prozesse verändert, die Aufklärung hat spürbare Konsequenzen gehabt. Für uns bleibt das eine Mahnung, dass Transparenz, Compliance und eine starke Unternehmenskultur unverzichtbar sind. In Niedersachsen sind viele tausend Arbeitsplätze bei VW und den Zulieferern eng mit der Zukunftsfähigkeit des Konzerns verbunden. Deshalb ist es entscheidend, dass Vertrauen dauerhaft erarbeitet und gesichert wird. Für das Land war der Skandal auf der einen Seite eine enorme Belastung, auf der anderen Seite aber auch ein Anstoß, die Transformation noch konsequenter zu betreiben.
Kurz vor seinem Rücktritt als VW-Vorstandschef am 23. September 2015 kündigte Martin Winterkorn in einer Unternehmensmitteilung an, „den Sachverhalt schnell und transparent vollumfänglich zu klären“. VW gab eine externe Untersuchung durch eine US-Anwaltskanzlei in Auftrag, deren Ergebnisse aber nicht umfänglich veröffentlicht wurden. Wie ist die Aufklärung und Aufarbeitung des Dieselskandals durch VW sowie durch Gerichte aus Ihrer Sicht verlaufen?
Juristisch ist der Fall sehr breit aufgearbeitet worden: Gerichte haben weltweit Verfahren geführt, Urteile gesprochen und Entschädigungen festgelegt. Auch das Unternehmen selbst hat Milliarden gezahlt. Wichtig ist aus heutiger Sicht, dass VW selbst Konsequenzen gezogen hat. Compliance-Strukturen wurden geschärft, Kontroll- und Prüfmechanismen digitalisiert und Verantwortlichkeiten klar gezogen. Heute sind Realfahr-Messungen, Whistleblower-Systeme und manipulationssichere Softwareprüfungen Standard. Für Niedersachsen als Anteilseigner und Standort bedeutet das: Wir können Vertrauen nur zurückgewinnen, wenn die Systeme so robust sind, dass solche Manipulationen möglichst ausgeschlossen sind.
Die Abgasbetrug hat der Reputation von Volkswagen geschadet. Wie sehr?
Der Schaden war immens, gerade in den Jahren unmittelbar nach Bekanntwerden. Aber Volkswagen hat es geschafft, Vertrauen zurückzugewinnen – durch neue Modelle, eine klare E-Strategie und den Anspruch, wieder für Qualität, Innovation und Verlässlichkeit zu stehen. In Niedersachsen spüren wir, wie wichtig diese Reputation für die Beschäftigten ist. Jede Auslieferung eines Fahrzeugs, ob in Wolfsburg, Emden oder Hannover, ist auch ein Vertrauensbeweis. Aber klar ist: Reputation ist kein Besitzstand, sondern eine tägliche Aufgabe.
Halten Sie einen Betrugsfall in der Dimension der Abgasmanipulationen von VW in der Autoindustrie in Zukunft für möglich?
Ein Restrisiko gibt es in jeder Branche, das muss man realistisch sehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Fall noch einmal möglich wäre, ist deutlich gesunken. Entscheidend sind drei Dinge: eine Unternehmenskultur, die Fehler nicht sanktioniert, sondern aufarbeitet, klare, digital gestützte Compliance-Systeme und eine Regulierung, die auf Realfahr-Tests und konsequente Marktüberwachung setzt. Wenn Branche, Aufsicht und Politik hier zusammenwirken, lässt sich das Risiko minimieren.