„Der Ansatz ist ein Paradigmenwechsel allererster Güte“
SERIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (5): RALF THOMAS IM GESPRÄCH
„Der Ansatz ist ein Paradigmenwechsel allererster Güte“
Der Siemens-Finanzvorstand fördert den Einsatz von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz in seinem Konzernressort – Selbst entwickelte Modelle
Von Michael Flämig, München
Künstliche Intelligenz in den Finanzressorts von Unternehmen? Für Ralf Thomas ist dies ein logischer Schritt. Mustererkennung im Controlling habe er schon im Jahr 1995 versucht, damals ohne Erfolg, berichtet der Siemens-Finanzvorstand im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Damals musste man noch über Data Stream alle Daten in Excel herunterladen und hat so lange mit der Analyse gebraucht, dass der Markt schon wieder weiter war.“ Der Impuls zur Mustererkennung, die die Grundlage von künstlicher Intelligenz ist, sei also schon lange da gewesen.
Mittlerweile ist Siemens vorangekommen. „Wir haben in allen Bereichen Initiativen gestartet“, erklärt Thomas. Das jüngste Beispiel: Siemens hat in diesem Jahr erstmals ein Kryptowertpapier begeben.
Am Ende des Tages funktionierten elektronische Wertpapiere auf der Blockchain genauso wie die meisten Digitalisierungsthemen, so die Einschätzung des Finanzvorstands. Das Ziel: „Cutting out the middleman“. Es gehe also darum, schneller und kosteneffizienter zu werden. Seine Überzeugung: „Der Ansatz von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz ist ein Paradigmenwechsel allererster Güte.“ Dafür seien natürlich Vorleistungen erforderlich, die auch Geld kosteten und die sich wie andere Investitionen am Ende lohnen müssten.
Siemens brauche den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Blockchain im Finanzbereich auch, um die neuen Geschäftsmodelle sinnvoll anzugehen, sagt Thomas: „Wir müssen in der Lage sein, die Geschäftschancen unserer industriellen Geschäfte zu unterstützen und zu beflügeln: Das wird entscheidend sein für unseren zukünftigen Erfolg.“
Im Reporting-Umfeld von Siemens gebe es viele Beispiele für den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI). So habe der Konzern ein KI-basiertes Daten- und Dokumenten-Management eingeführt. Schließlich sei es mit der Zahl der Siemens-Tochtergesellschaften rund um den Globus manchmal gar nicht so einfach zu sagen, was wo an relevanten Informationen verborgen liegt. Dies gelte beispielsweise, wenn Sanktionen verhängt würden. Die Frage laute dann: Wo macht Siemens was?
Künstliche Intelligenz könne in einer solchen Situation Dokumenten-Management nicht nur viel effizienter, sondern auch schneller machen, sagt Thomas: „Wir haben ungefähr eine Viertelmillion Dokumente gescannt und so für intelligente Suchmuster zugänglich gemacht.“ So sei der Konzern in der Lage, quasi auf Knopfdruck herauszufinden, wo er bestimmte Exposures habe: „Das bisherige Vorgehen macht klar, wie enorm die Skalierung ist: Man müsste 250.000 Dokumente lesen, verstehen und abgleichen.“
Steuern mit KI bearbeiten
Künstliche Intelligenz spiele auch im Bereich Steuern eine Rolle, berichtet Thomas: „Dort ist Siemens ebenfalls Vorreiter.“ Der Konzern habe gemeinsam mit Henkel die Blockchain-Applikation „Taxchain“ für Steuern und Zoll-Themen entwickelt.
Sie erlaube mittlerweile einen zertifizierten Ursprungsnachweis: „Derartige Themen kommen hochtechnisch daher, erleichtern aber die Abwicklung enorm.“ Aus gutem Grund habe man im Jahr 2021 den zweiten Preis bei dem Wettbewerb Taxcellence in der Kategorie Start-up gewonnen: „Wir sind mit dem Anspruch unterwegs, zu den Besten zu gehören. Es steht meines Erachtens außer Frage, dass dies auch gelingt.“
Ein weiteres Beispiel: Mit dem Low-Coding-Tools des erworbenen Software-Unternehmens Mendix habe Siemens für sich selbst eine Verrechnungspreissoftware entwickelt, die jetzt als Standard und Benchmark im Markt gelte: „Es ist einfach schön zu sehen, dass das Siemens-Team auf neue Portfolio-Elemente zugreift und daraus etwas Neues entsteht.“ Man müsse eben Kreativität Raum geben – so wie das der Siemens-Vorstandsvorsitzende Roland Busch immer wieder betone: Empowerment, den Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, Dinge auszuprobieren.
In der Audit-Abteilung hat Siemens einen sogenannten Data-Privacy-Crawler entwickelt. Dieser sei in der Lage, datenschutzrelevante Sachverhalte in dem weltweiten Datenpool von Siemens zu identifizieren, sagt Thomas. Darüber hinaus habe Siemens wie bekannt im Nachgang zu dem Compliance-Skandal mit Mustererkennung in den Zahlungsströmen viel selbst aufdecken können: „Mit Hilfe künstlicher Intelligenz kommt man, bevor eine Zahlung ausgeführt wurde, zu Relevanzvermutungen und kann so Schlimmeres verhindern. Da haben wir, das wage ich zu sagen, wahrscheinlich die Benchmark schlechthin gesetzt.“ Im Prinzip sei dies wieder eine Mustererkennung, die von künstlicher Intelligenz geleistet werde.
Erfolg mit virtueller HV
Als besonderen Erfolg stuft Thomas die virtuelle Hauptversammlung (HV) ein. „Die Inkarnation der Digitalisierung im Bereich Investor Relations ist die virtuelle HV“, erklärt er. Die virtuelle Hauptversammlung im vergangenen Februar sei ein Erfolg gewesen: „Weil es funktioniert hat. Weil wir die Präsenz erhöhen konnten, mehr als 65% hatten wir noch nie. Weil wir mit mehr als 10% der 4.500 Teilnehmer einen höheren Anteil an internationalen Investoren hatten.“
Er bekomme sehr viel positives Feedback aus dem Ausland, berichtet der Finanzvorstand. Mit 22 Wortmeldungen, 150 Fragen, siebeneinhalb Stunden Dauer und 19 Rednern gebe es kaum einen Unterschied zur Präsenz-Hauptversammlung.
Das Konzept der virtuellen Hauptversammlung, das insbesondere institutionelle Investoren hierzulande massiv kritisiert hatten, sei eine valide Option für Situationen, die es immer wieder geben werde, erklärt Thomas. Wenn man eine schwierige Unternehmenssituation habe, bei der man vielleicht auch bewusst eine emotionale Debatte zulassen müsse und wolle, möge Präsenz die bessere Variante sein: „Aber für ein ,normales’ Geschäftsjahr oder für den Pandemie-Betrieb ist es schon mal gut, dass wir wissen, dass das funktioniert.“ Diese Option gebe es übrigens schon in vielen Ländern, und sie zerstöre nicht den Dialog mit den Aktionären.
Digitalisierung und künstliche Intelligenz sorgen für einen Paradigmenwechsel auch in den Finanzressorts der Unternehmen. Dieser Meinung ist Siemens-Finanzvorstand Ralf Thomas. Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung erklärt er, dass der Konzern dort ebenfalls Blockchain anwende. Ein Ziel: die Geschäftschancen der industriellen Geschäfte zu unterstützen.
Zuletzt erschienen: Wie ChatGPT die Politik aufschreckt (28. April) „KI trifft Entscheidungen emotionslos“ (25. April)
Siemens-Finanzvorstand Ralf Thomas treibt die Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in seinem Ressort voran.