Markus Steilemann

„Ohne Covestro gibt es keine Nachhaltigkeit“

Zur Klimaneutralität hat der Kunststoffhersteller Covestro einen weiten Weg vor sich. Eigene Initiativen reichen dafür nicht, auch die Politik ist gefordert, wie der Vorstandschef im Interview sagt.

„Ohne Covestro gibt es keine Nachhaltigkeit“

Annette Becker.

Herr Dr. Steilemann, Covestro hat im abgelaufenen Geschäftsjahr von der konjunkturellen Aufholjagd profitiert. Geht das 2022 so weiter?

Es ist richtig, dass Covestro 2021 eines der besten Jahre der noch jungen Firmengeschichte erreicht hat. Wir haben die Prognose mehrfach erhöht, und ich kann heute die Guidance vollumfänglich bestätigen. Das gute Ergebnis resultiert aber nicht nur aus der konjunkturellen Entwicklung, sondern ist auch Ausdruck der starken Nachfrage nach unseren Produkten.

Das hört sich so an, als hätten Sie neue Nachfrage generiert. Wo kommt diese her?

Das liegt daran, dass wir in bestimmten Feldern besonders gut positioniert sind und darin stärker wachsen als der jeweilige Gesamtmarkt, beispielsweise in der Automobilindus­trie der Bereich der E-Mobilität oder im Gebäudesektor das Teilgebiet Gebäudedämmung. Auch Bereiche wie Windkraft, für die wir recycel­bare Materialien herstellen, wachsen rasant. Es handelt sich also um weit mehr als einen konjunkturbedingten Anstieg der Nachfrage.

Heißt das, dass Sie 2022 nahtlos an 2021 anknüpfen?

Heute ist es noch zu früh, eine Prognose für das neue Jahr abzugeben. Hier müssen Sie sich noch bis Anfang März gedulden.

Wo liegen Risiken? Stichwort: Energiepreise.

Natürlich ist auch Covestro mit gestiegenen Energiepreisen konfrontiert. Dennoch ist es uns 2021 gelungen, diese zu überkompensieren. Die hohen Energiepreise betreffen ganz Europa. Uns ist es bislang gelungen, damit umzugehen, nicht zuletzt durch die verbesserte Energieeffizienz. Wir haben den Energieeinsatz seit 2005 um 35 % pro Kilogramm Produkt gesenkt und uns auch im vergangenen Jahr weiter verbessert. Zudem bauen wir das Portfolio weiter um. In drei Jahren decken wir rund ein Viertel des elektrischen Energiebedarfs mit grünem Strom ab. In den USA sehen wir eher eine Normalisierung der Energiepreise. Das heißt, wir sind in der jeweiligen Region wettbewerbsfähig, weil alle Anbieter denselben Herausforderungen gegenüberstehen.

Wie sehr sorgt Sie die Omikron-Variante des Coronavirus mit Blick auf Lieferengpässe? China fährt eine Null-Covid-Strategie, so dass sich beispielsweise die Probleme im Zusammenhang mit Hafenschließungen verschärfen dürften.

Covestro ist seit vielen Jahren so aufgestellt, dass wir in der Region für die Region produzieren. Mit der dezentralen Produktion sind wir für diese Herausforderung gut gerüstet. Trotzdem ist ein globales Unternehmen immer auf globale Lieferketten angewiesen. Daher haben wir unsere Bezugsquellen deutlich verbreitert, planen langfristiger und gehen in höhere Bestände, um grundlegende Bedarfe abzudecken.

Jenseits der aktuellen Problemlagen dürfte für Covestro das Einhalten der Klimaziele die größte Herausforderung darstellen. Co­vestro hat sich der Kreislaufwirtschaft verschrieben und lässt bis heute ein Zieldatum für das Erreichen von Klimaneutralität vermissen. Warum?

Das Thema Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Produkte, die wir heute herstellen, basieren zu fast 99 % auf Erdöl. Damit finden unsere wirklichen Klimaemissionen nicht in der eigenen Produktion oder der Energiebeschaffung statt, sondern zum überwiegenden Teil in der Zulieferkette und nachher in der Entsorgung unserer Produkte. Deshalb ist für uns der umfassende Ansatz der Kreislaufwirtschaft so bedeutend. Selbst wenn wir unsere unmittelbaren Emissionen (Scope 1) und die Emissionen aus dem Energieeinsatz (Scope 2) auf null senken würden, hätten wir die CO2-Emissionen inklusive Scope 3 in Summe nur um 20 % gesenkt. Deshalb müssen wir die Materialien, die wir in Verkehr bringen, im Kreis führen. Das ist der Grund, warum wir Klimaneutralität umfassend betrachten. Aus unserer Perspektive kann das eine nicht ohne das andere gedacht werden. Wir wollen unseren Pfad zur Klimaneutralität für Scope-1- und Scope-2-Emissionen noch im ersten Quartal dieses Jahres vorstellen.

Zur Kreislaufwirtschaft gehört das Recycling. Sie werben dabei sehr stark für das chemische Recycling. Was hat sich der Laie darunter vorzustellen?

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Lego-Haus, das Sie umbauen wollen. Dann können Sie entweder die Wände herausnehmen und neu zusammensetzen oder die Wände in ihre einzelnen Steine zerlegen und völlig neu zusammenbauen. Das funktioniert bei Kunststoffen ähnlich. Kunststoffe lassen sich in Gänze recyceln. Man schmilzt sie ein und macht etwas Neues daraus, Beispiel dafür sind PET-Flaschen. Allerdings funktioniert das nur so lange, wie es einfarbige Lego-Bausteine sind. Sobald Sie bunte Lego-Bausteine haben, kommt hinten etwas raus, was Sie nicht mehr gebrauchen können. Es gibt Kunststoffe, die sind so vermischt, dass sie ein bestimmtes Eigenschaftsprofil haben. Dieses Profil geht mit der klassischen Recyclingmethode verloren. An diesem Punkt kommt chemisches Recycling ins Spiel, das an den kleineren Bausteinen ansetzt.

Um den Kunststoff in seine Einzelteile aufzuspalten, benötigen Sie aber wieder Energie und verursachen neue CO2-Emissionen. Wo ist der Mehrwert?

Am chemischen Recycling wird oft kritisiert, dass es zu energieintensiv ist. Das stimmt, wenn man es mit dem Recycling von PET-Flaschen vergleicht. Aber dieser Vergleich hinkt. Er muss zu Materialien hergestellt werden, die den gleichen Zweck erfüllen. Nehmen wir Glas als Beispiel. Glas muss auf 1 100 bis 1 400 Grad erwärmt werden, um eine neue Flasche gießen zu können. Hier ist der Energiebedarf deutlich höher, als wenn man Kunststoffe chemisch recycelt. Das Gleiche gilt für Papier. Aus meiner Sicht ist die Diskussion um chemisches Recycling eine fehlgeleitete Debatte, weil chemisches Recycling dann eingesetzt wird, wenn mechanisches Recycling nicht ausreicht. Das chemische Recycling ist also eine Ergänzung, kein Ersatz.

Muss man nicht grundsätzlich weniger Kunststoff beispielsweise bei Verpackungen einsetzen?

Unbedingt sollten wir diskutieren, wo wir überhaupt Verpackungen brauchen und wenn ja, ob es Einmal- oder Mehrwegverpackungen sein sollen. Dann stellt sich die Frage nach dem Verpackungsmaterial, und an dieser Stelle schneidet Kunststoff besser ab. Kunststoff ist in der Herstellung weniger energieintensiv als Glas und hat eine geringere Materialintensität. Selbst die leichteste Wasserflasche aus Glas ist immer noch schwerer als eine durchschnittliche Kunststoffflasche. Anders ausgedrückt: Es ist viel weniger Material nötig, um einen Liter Gut zu transportieren. Das geht in der öffentlichen Debatte häufig unter. Statt Plastiktüten zu verbieten, sollten wir eher über den Sinn von Einwegverpackungen sprechen.

Dennoch die Frage: Entstehen beim Recyceln von Kunststoffen nicht auch wieder neue Emissionen?

Natürlich. Aber die entstehen auch beim Recycling von Glas oder Papier. Das lässt sich nicht vermeiden. Wirtschaftliches Arbeiten des Menschen war immer mit Emissionen und Reststoffen verbunden. Das ist aber eine philosophische Debatte. Entscheidend ist doch, wofür wir Kunststoffe verwenden. Sinnvolle Anwendungen sind für mich Lebensmittelsicherheit, aber auch hochisolierte Häuser, die von Anfang an weniger Energie verbrauchen. Weniger sinnvoll ist sicherlich der übermäßige Einsatz in Einwegverpackungen. Das muss von Beginn an bedacht werden. Wir sind stolz auf unser Portfolio, weil der überwiegende Anteil unserer Produkte für eine nachhaltige Zukunft benötigt wird. Ohne Covestro gibt es keine Nachhaltigkeit.

Covestro will langfristig keine fossilen Rohstoffe mehr einsetzen. Da heute noch 99 % der Produkte auf Erdöl basieren, stellt sich die Frage, was das langfristig heißt.

Wir überlegen sehr genau, zu welchem Zeitpunkt wir was erreichen können. Ich gebe ein Beispiel: Wir haben letztes Jahr etwa 20 000 Tonnen (t) nicht rohölbasierte Rohstoffe eingekauft. Das entspricht etwa 0,5 % unseres gesamten Rohstoffeinsatzes. Dieses Jahr streben wir den Einkauf von 100 000 t an, also Faktor 5. Das mag sich wenig anhören, aber das Wachstum ist enorm. Auch geht es weniger ums Wollen. Vielmehr müssen sich die Märkte zunächst ent­wickeln. Wir haben drei Jahre ge­braucht, um auf die 20 000 t zu kommen. Es hat gedauert, bis Anlagekapazitäten aufgebaut und Lieferverträge geschlossen waren. Jetzt wächst das Interesse sowohl bei Anbietern als auch auf der Nachfrageseite.

Es gibt ein Innovationsprojekt namens Circular Foam, das Covestro koordiniert und an dem europaweit 21 weitere Unternehmen teilnehmen. Um was geht es dabei?

In dem Projekt Circular Foam haben wir uns als Konsortium zusammengetan, um für die für Covestro relevanten Kunststoffe Recyclingformen aufzubauen. Am Anfang steht die Klassifizierung der Kunststoffe, um herauszufinden, welche Recyclingart für welchen Kunststoff geeignet ist. Ein Achtungserfolg ist uns dabei schon gelungen. Wir haben Matratzenweichschäume im Labormaßstab so recycelt, dass aus den entstandenen Produkten ohne Qualitätsverlust wieder neue Matratzen hergestellt werden können.

Es handelt sich um ein EU-Projekt. Wird das finanziell unterstützt?

Das Gesamtprojekt ist gefördert. Subventionen haben aber immer Vor- und Nachteile. Einer der Vorteile ist, dass man die gesamten F&E-Kosten nicht allein trägt. Umgekehrt werden damit aber auch bestimmte Technologien frei verfügbar. Daher muss man sehr genau überlegen, wie viel Förderung man nimmt und wie viele Wettbewerbsvorteile man dadurch abgibt. Wir fahren bestimmte Technologien unter dem Dach des Projekts, finanzieren aber stellenweise auch separat.

Ein anderes Zukunftsprojekt befindet sich in Dormagen. Dort setzen Sie CO2 als Rohstoff in der Produktion ein. Was stellen Sie damit her?

Das Besondere ist, dass wir Kohlendioxid aus der Atmosphäre fernhalten, das ansonsten in die Atmosphäre abgegeben werden würde. Dafür nutzen wir das CO2, das in Produktionsprozessen anderer Unternehmen freigesetzt wird. Wir haben uns an das Ende des Schornsteins gesetzt, waschen und entstauben die Abgase und übrig bleibt CO2 in Lebensmittelqualität. Das ließe sich beispielsweise in Mineralwasser verpressen. Mit diesem CO2 gehen wir in unsere Anlage und stellen eine Komponente her, die in der Produktion von Hart- und Weichschaum benötigt wird. Entsprechend breit kann diese Komponente, in die wir bis zu 20 % CO2 einbauen, eingesetzt werden.

Mit der Umstellung auf die Kreislaufwirtschaft haben Sie im Herbst den Abbau von konzernweit bis zu 1 700 Stellen begründet. Heißt das im Umkehrschluss, dass sich Covestro aus einzelnen Geschäften zurückzieht?

Nein. Es geht nicht um eine Portfoliodiskussion, sondern um eine nachhaltige Zukunftsstrategie. Zum einen geht es darum, uns auf wertschaffende Aktivitäten zu konzentrieren. Zum Beispiel arbeiten wir heute noch an Projekten, die sich mit der weiteren Erforschung von petrochemischen, also erdölbasierten Grundstoffen für unsere Produkte befassen. Das ist langfristig weder wertschaffend noch nachhaltig. Ein weiteres Thema ist die Digitalisierung. Zum anderen erfordert der Umbau in Richtung Klimaneutralität Geld, so dass wir an die Kosten ranmüssen. Auf diesen Überlegungen aufbauend haben wir untersucht, wie viele Stellen betroffen wären, wenn wir alle Möglichkeiten nutzen würden. Das ist ein rein theoretischer Wert. In der Praxis wird die Zahl der betroffenen Stellen absehbar deutlich geringer ausfallen.

Also gibt es bis heute keine Klarheit über den Umfang des Stellenabbaus?

Es handelt sich um eine rein theoretische Übung, auf Basis derer wir weitere Überlegungen anstellen. Erst am Ende des Programms, das Ende 2023 abgeschlossen sein wird, können wir konkrete Aussagen treffen.

Kritiker der ambitionierten Klimaziele, die in „Fit for 55“ verankert sind, befürchten die Deindustrialisierung in Europa. Sehen Sie das auch so?

Wir bei Covestro begrüßen es ausdrücklich, die CO2-Emissionsziele zu verschärfen. Aber wenn ich A sage, muss ich auch konsequent B sagen. Hier entstehen meine Sorgenfalten, weil der Ökostromausbau in Europa und in Deutschland zum Stillstand gekommen ist. In Fit for 55 wurde über Nacht die Reduktion der Emissionszertifikate verdoppelt. Statt einer Verringerung um 2 bis 2,5 % jährlich sprechen wir jetzt über 4 bis 4,5 %. Das kann man machen, dann muss aber zugleich exponentiell in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert werden. Angefangen bei der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren bis hin zu Eingriffen in Einspruchsrechte.

Diese Themen sind doch im Koalitionsvertrag verankert. Glauben Sie nicht daran?

Es geht nicht um Glauben, sondern um praktische, tatsächlich beobachtbare Schritte. Ich gebe ein Beispiel: Allein die chemische Industrie bräuchte 630 Terawattstunden (TWh) Energie. Das ist genauso viel Energie, wie die Bundesrepublik heute an Strom verbraucht. Das heißt, die Ausbauziele, die Herr Altmaier noch ausgerufen hat und von denen sich die neue Regierung bis heute nicht distanziert hat, reichen nicht mal aus, um den bis 2030 im Einklang mit Fit for 55 stehenden Energiebedarf zu decken. Wir müssten etwa 3 600 TWh Energie haben. Denn auch die Energie, die in Benzin, Heizöl und Gas steckt, muss künftig durch Strom gedeckt werden. In der öffentlichen Diskussion geht es aber nur darum, den heutigen Strom durch grünen Strom zu ersetzen. Das macht aber nur 15 % der gesamten Energiemenge aus. Der Rest wird über fossile Energieträger abgedeckt.

Führt das aber am Ende zur Verlagerung von Produktion? Sie sagen ja selbst, Covestro produziert in der Region für die Region. Werden Sie künftig nicht mehr in Europa für Europa produzieren?

Die chemische Industrie ist sozusagen die Mutter aller Industrien, wie eine Kollegin in Brüssel immer gern sagt. Ohne wettbewerbsfähige chemische Industrie geht es tatsächlich an die Substanz der Industrie, die wir in Europa haben. Ich verstehe, wenn Bundesregierung und Europäische Kommission sagen, wir müssen mehr Resilienz schaffen und brauchen eine gewisse Autarkie. Zugleich fehlt in diesen Institutionen jedoch die Bereitschaft anzuerkennen, dass dafür bestimmte Grundlagen geschaffen werden müssen. Grundlagen heißt, dass genügend bezahlbare Energie zur Verfügung steht, um energieintensive Betriebe in Europa zu halten. Welcher große Automobilhersteller würde denn hier noch Autos produzieren, wenn alle zwei Wochen in der Stahl- und Chemieindustrie die Lichter ausgehen, weil wir nicht genügend grünen Strom haben? Als Autohersteller setzen Sie dann doch lieber auf Lieferanten aus China oder Japan.

Das heißt, die Industrie befürchtet Blackouts.

Mittel- und langfristig würden wir bei nicht verfügbarer Energie deindustrialisiert. Das wird die Macht des Faktischen sein. Wenn die Netze nicht weiter ausgebaut und stabilisiert werden und wenn wir es nicht schaffen, Grundlast in Deutschland zu bauen und zu genehmigen, dann ist das Szenario von Blackouts immer wahrscheinlicher. Und zwar häufiger und länger und damit mit größeren Konsequenzen.

Das Interview führte

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