Erdgaskonzern

Putin bringt Gazprom auf längere Sicht in Existenznot

Seit Kriegsbeginn wird Gazprom missbraucht wie nie. Noch verdient der russische Gasriese prächtig. Aber weil er seinen wichtigsten Absatzmarkt, Europa, verliert, könnte es mit dem Geldsegen schnell vorbei sein.

Putin bringt Gazprom auf längere Sicht in Existenznot

Von Eduard Steiner, Moskau

Wenn Insider des weltgrößten Gaskonzerns Gazprom, der knapp 500000 Leute beschäftigt und von dem Schätzungen zufolge zusätzlich etwa eine Million Russen aus vorgelagerten Sektoren abhängen, vom Innenleben des russischen Unternehmens erzählen, mangelt es nicht an erheiternden Storys. Gerade Alexej Miller, seit 2001 Chef von Gazprom, sorgt für unvorteilhafte Anekdoten. Etwa mit einem seiner Spitznamen: „Postler“ wird er hinter seinem Rücken angeblich genannt. Miller sei nämlich der, der zu Wladimir Putin mit Berichten laufe, die so erstellt seien, dass sie dem Präsidenten der Russischen Föderation gefallen. Und Miller sei es auch, der mit Aufträgen an den Konzern aus dem Kreml zurückkomme. Kurz: Miller mache, was Putin sage.

Werkzeug des Kreml?

Ist der halbstaatliche Konzern also zu einem Werkzeug des Kremls geworden, um außenpolitisch mit dem Gashahn durchzusetzen, was anders nicht zu erreichen ist?

Es sei dies eine der drei Funktionen, die Gazprom nach Putins Machtantritt im Jahr 2000 immer mehr bekommen habe, sagt Michail Krutichin, Partner des Moskauer Energieberaters Rusenergy, der Börsen-Zeitung. Eine zweite Funktion sei, staatliche Gelder in die privaten Hände von Freunden des Kremlchefs zu lenken, indem Gazprom unnötige Megaprojekte ohne Ausschreibung an deren Baufirmen übergebe – „der Bau eines russischen Pipeline-Kilometers ist bis zu dreimal so teuer wie in anderen Ländern“, heißt es.

Nur die dritte Funktion von Gazprom ist laut Krutichin die kommerzielle – nämlich Gas zu fördern, zu transportieren und zu verkaufen. Das sei etwas, das die Russen über Jahrzehnte zuverlässig erledigt hätten. Heute freilich, im siebten Monat des Ukraine-Krieges, ist genau diese Hauptfunktion und -tätigkeit gestört wie nie, weil der Verkauf in Europa, Gazproms Cash-Cow, drastisch reduziert wurde.

Lieferstopp über Nord Stream

Jüngster Höhepunkt ist der Lieferstopp über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Schon zuvor, Ende April, war die Lieferung nach Bulgarien ausgesetzt und die Durchleitung durch die Pipeline Jamal über Belarus nach Polen vom Staat verboten worden, weil Polen Gazprom sanktioniert hatte. Und im September wurden die Lieferungen an den französischen Konzern Engie eingestellt, da dieser nach russischer Darstellung die Juli-Rechnungen noch nicht bezahlt hatte.

Gazprom wolle mit dem Manipulieren des Exportvolumens die Sanktionsentscheidungen der EU-Kommission beeinflussen, sagte der renommierte russische Ex-Zentralbanker und Finanzökonom Oleg Wjugin jüngst im Interview der Börsen-Zeitung (vgl. BZ vom 29. Juli).

Der Testlauf fand schon im Sommer 2021 statt, als der Konzern mit temporären Lieferdrosselungen zum ersten Mal bewusst die Gaspreise in ungeahnte Höhen trieb. Die EU habe damals die Zeichen nicht erkannt, sagt Walter Boltz, Energieberater und zuvor Chef von E-Control, auf Anfrage. Seit dem Ukraine-Krieg hat Russland die Methode einfach fortgesetzt und dreht dort wie da den Gashahn zu.

Fester Rubel belastet

Noch ist mit freiem Auge nicht sichtbar, dass neben Europa, wo alle vor dem Winter zittern, auch Gazprom angezählt aus diesem Ringkampf gehen wird. Noch ist der Gaspreis zu hoch, als dass der Konzern die ausfallenden Exportvolumina nicht kompensieren könnte. So hat das Unternehmen nach dem Vorjahresgewinn von 2,1 Bill. Rubel (rund 27,5 Mrd. Euro) im ersten Halbjahr 2022 einen Rekordgewinn von 2,5 Bill. Rubel (41,6 Mrd. Euro) eingefahren. Nur der hohe Rubel-Kurs hat verhindert, dass der Gewinn auch auf Rubel-Basis noch deutlich höher lag.

Aber der Staat holt sich Geld vom Konzern auch so, was das Zeug hält. So hat das Parlament entschieden, dass Gazprom – traditionell der größte Steuerzahler – einmalig 1,2 Bill. Rubel mehr Fördersteuer zahlen muss, was der nicht gezahlten Dividende für das Gesamtjahr 2021 entspricht. Damals hatte Putin den Stopp der Dividende verfügt. Inzwischen aber hat er unerwartet die Zahlung einer Zwischendividende für das erste Halbjahr angeordnet – zum ersten Mal in der Konzerngeschichte. Umgerechnet 20 Mrd. Euro gehen damit an die Aktionäre. Da der Staat gut die Hälfte der Anteile hält, bekommt er über 10 Mrd. Euro. „Er braucht das Geld wohl für den Krieg“, so Krutichin. Tatsächlich tun sich im Budget Löcher auf. Das Finanzministerium schätzt, dass die Ausgaben schon dieses Jahr die Einnahmen um 1,7 Bill. Rubel (28,3 Mrd. Euro) übersteigen.

Beispiellose Ausnutzung

Dass die Unternehmen dem Staat zu dienen haben, ist in Russland nicht neu. Dass sie aber gleichzeitig um ihr Kerngeschäft und ihren Kernmarkt im Interesse außenpolitischer Ziele gebracht werden, ist in dieser Dimension beispiellos. Und nicht ohne Risiko. Zum Einen nämlich wollen westliche Abnehmer und auch die Ukraine vor das Internationale Schiedsgericht ziehen, weil Lieferverträge nicht eingehalten worden sind. Zweitens „schafft Gazprom mit den Lieferstopps eine Situation, dass sich die Käufer abwenden“, meint Wjugin. Und es „kann niemand sagen, ob die Preise auch im nächsten Jahr hoch sind“. Dann aber wird das geringere Exportvolumen zum Problem.

Die Prognosen sind dramatisch. Nach den 175 Mrd. Kubikmetern, die 2021 in den Westen inklusive Türkei geflossen seien, würden dieses Jahr voraussichtlich nur noch 100 Mrd. Kubikmeter geliefert, schreibt die Investitionsbank BCS Global Markets in einer Studie. Bis 2025 sollte das Volumen auf 69 Mrd. Kubikmeter schrumpfen. Bemerkenswert ist auch die Prognose, dass die Pipelines im Norden Europas leer bleiben werden und abgesehen vom ukrainischen Transit, wo das Durchleitungsvolumen von den vorjährigen 42 Mrd. Kubikmetern bis 2025 auf 15 Mrd. Kubikmeter absacken dürfte, nur noch die Türkei und über die Türkei Südosteuropa beliefert werden.

Gazprom ist in ihrem Modell optimistischer und meint, dass ein gewisses Volumen wohl auch 2025 noch durch Nord Stream fließen und damit das Exportvolumen nach Europa auf den diesjährigen 100 Mrd. Kubikmetern verharren werde.

Ersatzkäufer wird überschätzt

Der Export nach China, Putins große Hoffnung, werde jedenfalls steigen – von den vorjährigen 10 Mrd. und den diesjährigen 16 Mrd. Kubikmetern auf die ab 2025 vereinbarten 38 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, wie BCS Global Markets schreibt. Damit wäre die neue Pipeline „Power of Siberia“ ausgelastet. Weitere Pipelineprojekte nach China sind bisher von Russland nur angekündigt, aber nicht vereinbart, zumal die Chinesen schon jetzt deutlich weniger zahlen als Europa. Und den Export von verflüssigtem Erdgas (LNG) in andere Erdteile hat Gazprom überhaupt versäumt und kann ihn kaum nachholen, weil der Westen die Technologie sanktionsbedingt nicht mehr liefert.

Selbst wenn die Chinesen mehr kaufen wollten – was sie nicht vorhaben –, müssten die großen Pipelines erst gebaut werden. Auf 100 Mrd. bis 150 Mrd. Dollar schätzen Experten die Kosten, LNG-Anlagen inbegriffen. Das Geld dafür wird der Konzern schwer aufbringen können, wenn er vom Staat weiter für den Krieg ausgesaugt wird – und wenn Miller jener Postbote bleibt, zu dem Putin ihn degradiert hat.

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