IM BLICKFELD

Wachstum ist der entscheidende Werthebel für Siemens

Von Michael Flämig, München Börsen-Zeitung, 6.10.2016 Das neue Siemens-Geschäftsjahr hat Anfang Oktober hervorragend begonnen - zumindest für die Aktionäre. Das Papier bewegt sich auf einem Niveau, das letztmals im Dezember 2007 erreicht wurde....

Wachstum ist der entscheidende Werthebel für Siemens

Von Michael Flämig, MünchenDas neue Siemens-Geschäftsjahr hat Anfang Oktober hervorragend begonnen – zumindest für die Aktionäre. Das Papier bewegt sich auf einem Niveau, das letztmals im Dezember 2007 erreicht wurde. Auch kurzfristig erfreut die Performance die Anteilseigner: Das Plus seit Anfang des Kalenderjahres beträgt mehr als 20 %, während der Deutsche Aktienindex (Dax) im Minus notiert.Der Höhenflug ist weniger erstaunlich, als er scheint. Zwar verkauft Siemens keine Turnschuhe, sondern Großprojekte wie Gaskraftwerke an schuldengeplagte Staaten – profitiert also nicht vom Konsumrausch infolge der Geldschwemme. Aber natürlich steigt der Siemens-Kurs auch wegen der Notenbank-Politik, die eine Flucht in Sach- und Dividendenwerte ausgelöst hat. Wichtiger allerdings ist: Die Outperformance mag in richtigen Entscheidungen an der Konzernspitze wurzeln, bleibt aber “nur” ein Aufholprozess. Auf Sicht von drei Jahren schneidet Siemens etwas schlechter ab als der Dax (7 %), in der Fünfjahresperspektive ist die Lücke sogar groß (39 %). Sicherlich: Im direkten Vergleich zu den 14 relevanten Konkurrenten in Europa, Amerika und Asien sieht es wesentlich besser aus. Im Chart über drei Jahre steht der Konzern an fünfter Stelle. Trotzdem ärgerlich für die Münchner: General Electric hat unverändert die Nase vorne. Die spannende Frage lautet daher: Welche weiteren Werthebel hat das Management um Vorstandschef Joe Kaeser?Das Sparprogramm zeigt volle Wirkung, dürfte jedoch in der Bewertung schon berücksichtigt sein. Dies gilt teils auch für das erfolgreiche Bekämpfen der Belastungen im Projektgeschäft. Rückenwind wird das Flottmachen bisher unrentabler Geschäfte bringen. Mehr als 10 Mrd. Euro Umsatz richtet das Management neu aus. Doch die Marge erhöht sich auch im Erfolgsfall nicht mehr gewaltig, weil der Prozess schon seit geraumer Zeit läuft. Das Reinemachen im Portfolio ist durch, weitere positive Wirkungen sind nicht zu erwarten – wenn der Vorstand keine Megadeals beschließt. Eine Börsennotiz der Medizinsparte würde der Kapitalmarkt zwar als Werthebel begrüßen, sie erscheint aber vorerst unwahrscheinlich. Es mangelt an einem Alternativ-Investment für frei werdende Mittel. Damit rücken die Wachstumschancen in den Mittelpunkt. “Kompliziertes Jahr 2017″Der Einfluss auf den Firmenwert ist groß. Credit Suisse zufolge ist bei einem mittelfristigen Wachstum von 1 % jährlich ein Aktienkurs von 97 Euro gerechtfertigt – dagegen wären es 121 Euro bei 5 %. Doch das widrige Umfeld erschwert Wachstumssprünge. Krisen und Geldpolitik verunsichern die Kunden. Dies ist Gift für deren Investitionsfreude. Seit mehr als 15 Quartalen stagnierten die Erlöse in der Kapitalgüterindustrie, hat UBS ermittelt: “Schwäche wird wahrscheinlich die Norm bleiben.” Die Investitionsausgaben sinken nach UBS-Schätzung im kommenden Jahr um 1 %. Kein Wunder, dass Kaeser jüngst in einem Fernsehinterview auf Moll gestimmt war: “2017 wird ein weiteres kompliziertes Jahr.”Aktionäre müssen deswegen nicht den Blues kriegen. Schließlich hindert die Weltlage Siemens nicht daran, seit sieben Quartalen in absoluten Zahlen zu wachsen (siehe Grafik “Siemens kehrt auf Wachstumspfad zurück”). Während im Geschäftsjahr 2014/2015 fast ausschließlich Wechselkurse und Zukäufe für den Rückenwind sorgten, hängte Siemens im gerade abgelaufenen Turnus die Konkurrenz aus eigener Kraft ab.Die Analysten sind guten Mutes, dass Siemens diesen Lauf fortsetzen kann. In den nächsten zwei Geschäftsjahren rechnen UBS und Morgan Stanley mit einem addierten Wachstum von 6 %, UBS tippt auf 5 % und Credit Suisse sogar auf 11 %. Teil des Optimismus ist ein Mega-Kraftwerksauftrag in Ägypten, der in der ersten Geschäftsjahreshälfte hohe Umsätze erwarten lässt. Für Fortschritte spricht auch die Tatsache, dass in den vier vergangenen Quartalen der Auftragseingang teils deutlich schneller stieg als der Umsatz. In der Folge addiert sich der Orderbestand auf 116 Mrd. Euro. Dies ist ein Rekordwert. Mehr noch: Während der Umsatz 2015/2016 nur rund 5 % über dem Niveau 2012/2013 landen dürfte, ist der Orderberg 20 % höher (siehe Grafik “Siemens baut Fettpolster auf”). Trumpf DigitalkompetenzMit allzu ambitionierten Wachstumsanstrengungen hat Siemens zwar Schiffbruch erlitten unter Kaesers Vorgänger. Aktuell aber ist ein Margenabrieb nicht zu erkennen. Die Kraftwerkstechnik, die Medizintechnik und die Windenergie treiben die Erlöse. Mittelfristig wichtiger ist die gute Positionierung im Thema Industrie 4.0. Berenberg sieht Siemens an der Weltspitze in der Industrieautomatisierung. Selbst Morgan Stanley spricht davon, die General-Electric-Aktie erhalte für die Digitalkompetenz einen Bewertungsaufschlag, der angesichts des Know-how von Siemens nicht gerechtfertigt sei.