RECHT UND KAPITALMARKT

Weg zur Sammelklage in Deutschland noch weit

Es kann nicht in erster Linie um Drohpotenziale zur Sanktionierung von Industrieunternehmen und Banken gehen

Weg zur Sammelklage in Deutschland noch weit

Von Christoph Baus und Johann Christoph Schaper *)In der Diskussion um Sammel- und Massenklagen für deutsche Verbraucher wird vielfach das US-Rechtssystem als Vorbild genannt. Dass eine vergleichbare Regelung in Deutschland eingeführt wird, ist jedoch ausgeschlossen. Das deutsche Prozessrecht erfordert andere Lösungsansätze, um effiziente und faire Verfahren zu gestalten.Autokäufer, Kleinanleger, Patienten – mit jedem Vorfall, in dem eine Vielzahl von Verbrauchern von möglichem Fehlverhalten betroffen ist, wird reflexartig die Sammelklage gefordert. Denn, so wird behauptet, der Verbraucher stehe regelmäßig schutzlos einem übermächtigen Konzern gegenüber. Kritiker von Sammelklagen befürchten hingegen eine Amerikanisierung des Prozessrechts und verweisen darauf, dass die Class Action in den USA insbesondere auch der Disziplinierung dient, um Unternehmen zu mehr Verbraucherschutz anzuhalten.Unabhängig vom Zweck einer Massenklage ist es zunächst einmal richtig, dass das deutsche Prozessrecht nicht für Massenklagen ausgelegt ist. Ob der Verbraucher deshalb tatsächlich schutzlos ist, mag bezweifelt werden; es gibt zahlreiche Gegenbeispiele. Schutzlos sind allerdings in erster Linie die Gerichte, für die eine Klage eine Klage ist, unabhängig davon, ob sich die Sachverhalte und Rechtsfragen ähneln.Seit 2001 sahen sich deutsche Gerichte angesichts einer Vielzahl von Klagen gegen die Deutsche Telekom überfordert und riefen den Gesetzgeber zur Hilfe – das Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz wurde eingeführt. Es ermöglicht Musterklagen in einem engen Anwendungsbereich der Kapitalanlagen, gilt aber gemeinhin nicht als Erfolgsmodell, weil sich die Verfahren zu lange hinziehen. So läuft das Verfahren gegen die Deutsche Telekom immer noch. Zudem setzt die KapMuG-Klage individuelle Klagen voraus, um am Verfahren teilzunehmen. Wer nicht individuell klagt, hat kein Anrecht auf eine Zahlung, selbst wenn eine Musterklage erfolgreich war.Abhilfe versprechen sich Verbraucherschützer von Sammelklagen. Auf diesem Weg sollen die betroffenen Verbraucher schnell und unbürokratisch nicht nur den tatsächlich entstandenen materiellen Schaden ersetzt bekommen, sondern auch den immateriellen Schaden. Beispielsweise kann sich nach dem zwischen VW und den US-Behörden geschlossenen Vergleich jeder VW-Kunde, der am 18. September 2015 Eigentümer oder Leasingnehmer eines betroffenen Fahrzeugs gewesen ist, nicht nur über die Rückerstattung der Kauf- oder Leasingkosten freuen, sondern zudem über eine Zahlung in vier- bis fünfstelliger Höhe. Und das unabhängig davon, ob ihm tatsächlich ein entsprechender Schaden entstanden ist. Herrschaft des VerfahrensDass eine Sammelklage nach US-Vorbild eingeführt wird, ist allerdings praktisch ausgeschlossen. Die deutsche Zivilprozessordnung ist von dem Grundsatz geprägt, dass die Prozessparteien die Herrschaft des Verfahrens innehaben. Sie können frei entscheiden, inwieweit die Klage zurückgenommen, der Anspruch anerkannt oder ein Vergleich geschlossen werden soll. Zudem gilt der Grundsatz, wonach nur der Sachverhalt Gegenstand der Entscheidung ist, der von den Parteien tatsächlich vorgetragen wird. Außerdem kann der Kläger nur die Kompensation tatsächlich entstandener Schäden verlangen und er muss den Kausalzusammenhang zwischen Schädigerverhalten und Schaden im Einzelfall nachweisen. Im Rahmen einer US-Sammelklage dagegen ist den Parteien die Verfahrensherrschaft weitgehend entzogen. Der mögliche Geschädigte muss sich aktiv um die Nichtteilnahme an der Sammelklage kümmern (Opt-out-Modell). Dies kann zwar zu einer erheblichen Verfahrensbeschleunigung führen, da die einzelnen Anspruchsteller keine Möglichkeit haben, sich am Verfahren zu beteiligen – auf der anderen Seite haben sie auf den Verlauf auch keinen Einfluss.Ist eine Sammelklage in den USA erfolgreich, erhalten die Kläger häufig mehr als die Kompensation ihres tatsächlich entstandenen Schadens. Grund hierfür ist das Prinzip des Strafschadenersatzes. Das schadenersatzpflichtige Unternehmen soll nicht nur die durch das Fehlverhalten entstandenen Schäden kompensieren, es soll auch für das Fehlverhalten bestraft werden – eine Rechtsauffassung, die dem deutschen Schadenersatzrecht fremd ist. Denn das US-Sammelklagesystem ist Ausfluss des sogenannten Nachsorgeprinzips. Während die hochregulierten Staaten im europäischen Rechtsraum die Einführung neuer Produkte nach dem Vorsorgeprinzip streng überwachen, hält sich der Staat in den USA diesbezüglich zurück. Für US-Unternehmen soll ein drohender Strafschadenersatz das Bewusstsein für Produktsicherheit schärfen. Befürworter von Opt-inDie Einführung einer Opt-out-Sammelklage nach US-Vorbild wird in Deutschland daher auch kaum ernsthaft gefordert. Im europäischen Rechtsraum finden sich aber zunehmend Befürworter des Opt-in-Modells, das in einer Reihe europäischer Jurisdiktionen bereits zur Einführung kollektiver Rechtsschutzinstrumente geführt hat. Danach muss sich der betroffene Verbraucher aktiv um die Teilnahme am Verfahren kümmern, etwa durch die Registrierung in einem Klageregister oder, wie bei der französischen Action de Group, durch den Beitritt zu einem laufenden, von einem Verband geführten Verfahren. Auch der bisher letzte parlamentarische Versuch in Deutschland, die Gesetzesvorlage von Bündnis 90/Die Grünen von 2015, hatte die Verankerung einer Gruppenklage nach dem Opt-in-Modell zum Gegenstand.Befürworter von kollektiven Rechtsschutzinstrumenten nach dem Opt-in-Modell betonen zwei Argumente. Einerseits bedinge die fehlende Möglichkeit einer Sammelklage einen fehlenden “Zugang zum Recht”, wenn Verbraucher die Verfahrenskosten scheuen. Andererseits sei nur so eine Verfahrensbeschleunigung zu erreichen.Beide Argumente sind nur vordergründig schlüssig. Zunächst hängen die Kosten eines Gerichtsverfahrens vom Streitwert ab und die unterlegene Partei hat die Prozesskosten zu tragen. Es kann zwar Fälle geben, in denen das Prozesskostenrisiko das wirtschaftliche Interesse übersteigt – für ein Verfahren erster Instanz ist dies für Streitwerte bis 770 Euro der Fall. Bislang obliegt es aber dem mündigen Bürger selbst, zu entscheiden, ob ihm der Aufwand eines Verfahrens lohnenswert erscheint.Zudem dürfte die erhoffte Verfahrensbeschleunigung bei Opt-in-Verfahren gering ausfallen. Denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass sowohl der Kausalzusammenhang als auch die Feststellung des individuellen Schadens nicht musterverfahrensfähig sind. Der betroffene Verbraucher müsste also auch nach einem Erfolg der Musterklage seinen Schaden nebst Kausalzusammenhang selbst geltend machen. Er wäre dem Beweisrisiko und Kostenrisiko ebenso ausgesetzt, wie wenn er eine Individualklage erhoben hätte. Die aktuell diskutierten Regelungen stellen somit kaum Verbesserungen der prozessualen Stellung von Massenklägern gegenüber Einzelklägern dar. Überhaupt integrierbar?Es stellt sich also die Frage, ob die Möglichkeit kollektiven Rechtsschutzes überhaupt in das deutsche Prozessrechtssystem integrierbar ist. Dabei gilt es, die Debatte zu entpolitisieren. Es kann nicht allein darum gehen, Drohpotenziale zur Sanktionierung von Industrieunternehmen und Banken in den Vordergrund zu stellen. Auch muss die Teilnahme an einem Gerichtsverfahren weiter der freien Entscheidung des Rechtssuchenden unterliegen. Eine mögliche Gesetzesänderung sollte sich an praktischen Erfordernissen orientieren, um Verfahren effizient und fair zu gestalten, ohne die Grundsätze des Prozessrechts infrage zu stellen. Diese Ziele werden durch die bisherigen Vorschläge zu Sammel- und Massenklagen nicht erreicht.—-*) Dr. Christoph Baus ist Partner, Global Vice Chair des Litigation & Trial Departments von Latham & Watkins, Johann Christoph Schaper ist Associate der Kanzlei.