Europäische Union

Neue Handelspolitik dringend gesucht

Der EU fällt es immer schwerer, fertige Handelsabkommen auch zu ratifizieren und fällt so im Wettbewerb mit China immer weiter zurück. Helfen die Nachjustierungen, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat?

Neue Handelspolitik dringend gesucht

Kurz vor Weihnachten gab es dann doch noch eine gute Nachricht: Der australische Handelsminister Dan Tehan kündigte an, dass die kurzzeitig auf Eis gelegten Ge­spräche mit der EU nun doch wieder aufgenommen werden. Wahrscheinlich findet im Februar eine Verhandlungsrunde statt. Und damit wäre dann doch noch eine politische Einigung auf einen Freihandelsvertrag noch 2022 möglich. Handelsexperten gehen davon aus, dass im kommenden Jahr auf jeden Fall drei weitere neue Handelsverträge der EU fertig auf dem Tisch liegen: Es geht dabei um ein Update eines schon bestehenden Abkommens mit Chile, um ein erneuertes Abkommen mit Mexiko und um erstmalige Vereinbarungen mit Neuseeland.

Doch wann werden all diese schönen neuen Handelsverträge mit den europäischen Partnern in Kraft treten? Dies scheint nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre mehr denn je ein Glückspiel. Denn die EU schafft es immer seltener, ein fertig verhandeltes Abkommen auch zu ratifizieren. Die Mercosur-Vereinbarung mit dem südamerikanischen Wirtschaftsraum, auf die sich die EU 2019 mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay nach fast 20 Jahren Verhandlungen geeinigt hat, ist nur ein Beispiel.

Mäkelei am „Goldstandard“

Selbst das Ceta-Abkommen mit Kanada, das bei der Unterzeichnung 2016 noch als neuer „Goldstandard“ unter den Handelsverträgen gefeiert wurde, ist immer noch nur vorläufig in Kraft – auch nach mehr als fünf Jahren fehlen die Ratifizierungen aus zwölf EU-Mitgliedstaaten. Noch nicht einmal Deutschland hat es bislang geschafft, einen Haken hinter Ceta zu machen. Oder das Investitionsabkommen CAI, das die EU Ende 2020 mit China geschlossen hat: Hier war es das Europaparlament, das den weiteren Genehmigungsprozess erst einmal auf Eis gelegt hat.

Handelsexperten halten dies für eine gefährliche Entwicklung. In einer im August veröffentlichten Ifo-Studie für die Konrad- Adenauer-Stiftung heißt es: „Die Ratifizierung bereits ausverhandelter Handelsabkommen stellt einen wichtigen Schritt dar, um einen verbesserten Marktzugang und somit neue und einfachere Möglichkeiten zur Diversifizierung der Lieferkette zu ermöglichen.“ Oder anders ausgedrückt: Gerade in der aktuellen Pandemie stellt die Nichtratifizierung ein „echtes Problem“ dar, wie Lisandra Flach, eine der Autorinnen der Studie und Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft, betont.

Flach verweist zugleich auf die geopolitischen Auswirkungen: China habe sich im zurückliegenden Jahr mit 14 asiatisch-pazifischen Ländern auf das größte Handelsabkommen der Welt verständigt, während die EU nicht in der Lage sei, bereits verhandelte Abkommen zu ratifizieren, sagt sie. „Dies sollte ein Weckruf an die EU sein.“

Ähnlich argumentiert Katrin Kamin, die im Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) die Handels-Task-Force leitet. Die EU müsse aufpassen, hier nicht ins Hintertreffen zu geraten, sagt Kamin im Gespräch und verweist auf den Mercosur-Deal: „Während in Europa über die Ratifizierung diskutiert wird, beginnen auch andere Staaten, mit den Mercosur-Ländern zu verhandeln – allen voran China. Der langatmige Prozess in der EU führt dazu, dass sich die Staaten auch nach anderen Partnern umschauen.“ Nach Zahlen des Ifo-Instituts sind die Exporte der Mercosur-Länder nach Europa in den vergangenen sechs Jahren um knapp 25% gesunken. „Wir beobachten eine starke Verschiebung der Handelsströme Richtung China.“

Die Gründe für die schleppenden Ratifizierungsverfahren sind im Einzelfall recht unterschiedlich. Für die Kieler Handelsexpertin Kamin ist aber vielleicht das größte Problem, dass die EU versucht, mit ihrer Handelspolitik sehr viele unterschiedliche Ziele zu erreichen. „Aktuell sehen wir in den Freihandelsabkommen eine Menge sogenannter Non-Trade Objectives, zu denen etwa Umwelt- und Sozialstandards oder auch die Einhaltung von Menschenrechten zählen“, erläutert sie. „Dies führt aber zu suboptimalen Ergebnissen.“

Brüssel im Oktober 2021: Auch der Europäische Rat hat mittlerweile das Problem erkannt und ist unzufrieden, wie es in der Handelspolitik so läuft. Nach einer strategischen Aussprache warnte die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel davor, Freihandelsverträge „mit allen möglichen sonstigen Problemen zu überfrachten“ und damit schwieriger umsetzbar zu machen. „Das ist eine Schwäche, die wir überwinden sollten“, sagte Merkel in Brüssel nach ihrem letzten EU-Gipfel.

Die ganzen Probleme nur darauf zu schieben, dass die EU-Kommission versucht, die Durchsetzung ihrer Vorstellungen und Werte in Drittstaaten über den Hebel der Handelspolitik durchzusetzen – für Bernd Lange ist dies eine viel zu einfache Erklärung. „Eine Überfrachtung der Freihandelsverträge ist nicht das Problem“, sagt der SPD-Politiker, der dem Handelsausschuss des Europaparlaments vorsitzt. Lange zufolge geht es eher darum, dass der Rat prinzipiell immer darauf bestehe, die Verträge als „gemischte Abkommen“ einzustufen, die im Gegensatz zur Kategorie „EU-only“ dann nicht nur vom EU-Parlament, sondern auch von allen Mitgliedstaaten zu ratifizieren sind. „Damit unterlaufen die Mitgliedsstaaten meiner Meinung nach den Lissabonner Vertrag, der die Alleinzuständigkeit der Handelspolitik eigentlich der EU zu­schreibt“, moniert Lange. Dies wollten aber einige Länder bis heute nicht so richtig akzeptieren.

Strategischeres Handeln nötig

Hinzu kommt: Innerhalb der EU-Staaten gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen, wie eine gute Handelspolitik auszusehen hat. Dies zeigt sich aktuell wieder deutlich im Umgang mit den Vorschlägen zu einer strategischen Neuausrichtung, die die EU-Kommission im vergangenen Februar auf den Tisch gelegt hat und zu der es die Mitgliedstaaten bis heute nicht geschafft haben, eine gemeinsame Position zu formulieren. Diese Post-Covid-Strategie von Handelskommissar Valdis Dombrovskis zielt unter anderem auf eine noch stärkere Verankerung von Nachhaltigkeitszielen in der Handelspolitik und auf strengere globale Handelsregeln ab. Das Motto lautet: offene strategische Autonomie. Die EU müsse auch klarmachen, dass sie in der Lage sei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, hatte Dombrovskis dazu betont.

Nach Meinung von Experten zeigt die neue Strategie auch den Drahtseilakt, der in der Handelspolitik heute notwendig ist: Auf der einen Seite sei die EU als Handelsmacht auf offene Märkte angewiesen. Auf der anderen Seite müsse sich auch Brüssel aufgrund von globalen Veränderungen immer strategischer verhalten, wie etwa Katrin Kamin vom IfW Kiel analysiert.

Für Deutschland, wo über die Verfolgung von geostrategischen Interessen in der Außenwirtschaftspolitik bislang – im Gegensatz zu Frankreich – kaum diskutiert wird, wäre dies ein neuer Ansatz, der aber von der neuen Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich unterstützt wird. Die Wirtschaft hofft in diesem Zusammenhang auch auf ein größeres Engagement Berlins in der Handelspolitik: „Im Hinblick auf Ceta, Mercosur, CAI kann die europäische Handelspolitik kaum noch echte Marktöffnungen vorweisen“, kritisiert Wolfgang Niedermark aus der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Deutschland als größter Handelsakteur der EU muss den Willen zur Ratifizierung in Brüssel vorantreiben.“

Während der BDI künftig möglichst schlanke Abkommen will, rät Ifo-Expertin Flach der EU-Kommission zu „mehr Pragmatismus und weniger Rosinenpickerei“ in den Verhandlungen. Klar ist auf jeden Fall: Die europäische Handelspolitik wird sich verändern (müssen), um auch den Erfahrungen aus der Corona-Pandemie Rechnung zu tragen, in der die Verletzlichkeit von Liefer- und Wertschöpfungsketten so deutlich geworden ist wie wohl noch nie.

Von Andreas Heitker, Brüssel

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