Jubiläum der Börsen-Zeitung

Aufbruch in turbulenten Zeiten

Die Geburtsstunde der Börsen-Zeitung 1952 fällt in ein Jahr wichtiger Weichenstellungen für die Entwicklung von Wirtschaft und Finanzierung in Deutschland.

Aufbruch in turbulenten Zeiten

Der 11. April 1954, ein Sonntag, ist ein besonderer Tag. Und zwar gerade deshalb, weil nichts Besonderes passiert ist. Computerwissenschaftler der Cambridge-Universität haben ihn auf Grundlage einer maschi­nellen Auswertung von 300 Millionen Ereignissen der Weltgeschichte zum „bedeutungslosesten Tag des 20. Jahrhunderts“ erklärt. Denn außer dem Sieg der Sozialisten bei den belgischen Wahlen gibt es wenig, worauf heute noch im Internet verwiesen wird.

Jede Menge zu berichten

Das Bemerkenswerteste an der Auswertung aus Cambridge ist, dass der vermeintlich ereignisärmste Tag des Jahrhunderts ausgerechnet in die frühen Fünfziger fällt. Denn ebendiese frühen Fünfziger zählen – zumindest in Deutschland – in den Geschichtsbüchern zu den nachrichtenstärksten Jahren. Es gibt jede Menge zu berichten. Schließlich ist es die Zeit des Aufbaus und Neuanfangs. Und viele wichtige Weichen müssen gestellt werden. Das gilt vor allem für die Wirtschaft und deren Finanzierung. Die Geburtsstunde der Börsen-Zeitung am 1. Februar 1952 fällt in eine turbulente Zeit, in der vieles entschieden wird, was für Finanzplatz, Wirtschaft und Kreditgewerbe in den nachfolgenden Dekaden spürbare Auswirkungen haben wird.

Zwar liegen die Gründung der Bundesrepublik und der Bank deutscher Länder sowie die Währungsreform bereits einige Jahre zurück. Aber das „Wirtschaftswunder“ lässt noch auf sich warten, denn zunächst einmal klettert die Arbeitslosenrate. Spürbar nach unten geht es mit der Arbeitslosigkeit erst 1952. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Deutschland in diesem Jahr die Rückkehr auf den Weltmarkt beschleunigt. Im Schatten des Koreakriegs steigt im Ausland die Nachfrage nach Waren aus Deutschland rasant an. 1952 wird Deutschland Mitglied des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Zugleich treten die Verhandlungen über das Londoner Schuldenabkommen, das ein Jahr später abgeschlossen wird, in eine entscheidende Phase. Die Auslandsschulden werden – auch dank eines großzügigen Teilerlasses – wieder auf eine belastbare Grundlage gestellt. Das Londoner Abkommen schafft insofern die Grundlage für die Kreditwürdigkeit der deutschen Wirtschaft. Beispielsweise müssen Lieferungen nicht länger unmittelbar bezahlt werden, und Darlehen von Auslandsbanken werden wieder ermöglicht.

Kurz vor dem Startschuss für die Börsen-Zeitung haben die Gründung der Montanunion und die Einrichtung der Europäischen Zahlungsunion bereits zu einer Marktöffnung nach Europa und einer Liberalisierung des Kapitalverkehrs beigetragen. Im Mai 1952 wird der Deutschlandvertrag mit den drei westlichen Besatzungsmächten geschlossen, was den völkerrechtlichen Status Deutschlands normalisiert, indem das Besatzungsstatut abgelöst wird.

Für die Finanzierung des sich beschleunigenden Aufschwungs ist zudem noch die Wende im Umgang mit den Großbanken von maßgeblicher Bedeutung. Nach dem Krieg bestehen die Besatzungsmächte zunächst auf einer Aufspaltung von Deutscher Bank, Commerzbank und Dresdner Bank in jeweils fast ein Dutzend regionaler Institute. Im September 1952 startet dann die Kehrtwende.

Auf der Basis eines neuen Gesetzes beschließen die Hauptversammlungen der drei Großbanken die Wiederzusammenführung in jeweils drei Einheiten. So werden zum Beispiel aus den zehn Regionalinstituten der Deutschen Bank drei Nachfolgebanken, die sich in allen wichtigen Fragen eng abstimmen: Norddeutsche Bank, Süddeutsche Bank und Rheinisch-Westfälische Bank. Faktisch kommt das einer Rekonstituierung der Großbanken sieben Jahre nach Kriegsende gleich. Für diese Wiederzusammenführung setzt sich vor allem der spätere Deutsche-Bank-Chef Hermann-Josef Abs ein. Sein Argument lautet, dass ohne eine solche Konsolidierung keine Auslandsbank in Geschäftsbeziehungen zu deutschen Kreditinstituten treten könne. Um jedoch keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Trotz der ungemeinen Dynamik, mit der sich die deutsche Wirtschaft ab 1952 entwickelt (nominal wächst das Bruttosozialprodukt in diesem Jahr um beeindruckende 14,2%), ist „Wohlstand für alle“ zunächst noch ein weit entferntes Ziel. Nur jeder vierte Bundesbürger gibt 1952 an, bereits einmal in Urlaub gewesen zu sein. Und nicht einmal jeder Fünfzigste besitzt ein Auto. Die Arbeitslosenquote liegt – noch – bei 8%.

Es geht steil aufwärts

Angesichts des lebhaften Aufschwungs im „Wirtschaftswunder“ ändern sich diese Kennziffern jedoch recht zügig. Bis Mitte 1954 finden zusätzlich zwei Millionen Menschen eine Beschäftigung. Die Arbeitslosenquote sinkt bis 1955 auf 2,7%. In Deutschland herrscht somit Mitte der Fünfzigerjahre Vollbeschäftigung. Das nominale Sozialprodukt verdreifacht sich bis 1960. In anderen Worten: Auf Basis einer Indus­triestruktur, die auf die Bedürfnisse des Weltmarkts zugeschnitten zu sein scheint, nutzt die deutsche Wirtschaft die Chance, den Export zu steigern und damit den konjunkturellen Motor insgesamt über viele Jahre am Laufen zu halten.

Was den Kapitalmarkt in Deutschland im Jahr 1952 angeht, so ist der Begriff „Markt“ recht hochgegriffen. Denn Begebung und Handel von Wertpapieren sind zu einem hohen Grad politisch reglementiert. Noch gilt das Kapitalverkehrsgesetz von 1949. Emissionen aller Arten von Wertpapieren müssen von der Regierung genehmigt werden. Der Staat greift massiv ein, um Kapitalflüsse zu lenken, etwa durch das Kapitalmarktförderungsgesetz von 1952, das – anders als es der Titel vermuten lässt – Bundesschatzanweisungen so begünstigt, dass eine Anlage in Aktien wesentlich unattraktiver wird.

Um zu verstehen, woran es am deutschen Kapitalmarkt hakt, muss man freilich noch einmal einige Jahre zurückspringen. Erschwert ist der Wertpapierverkehr nach dem Krieg vor allem dadurch, dass das Wertpapiergeschäft zunächst in völliger Unordnung ist. Viele Tresore von Geschäftsbanken sind geplündert. Dringend erforderlich ist deshalb, vorhandene Wertpapiere den rechtmäßigen Eigentümern zuzuordnen – also denen, die ihre Ansprüche nachweisen können. Die Rede ist von der „Wertpapierbereinigung“ – und genau hier kommt am 1. April 1947 die Herausgebergemeinschaft Wertpapier-Mitteilungen, Keppler, Lehmann GmbH & Co. KG ins Spiel, die knapp fünf Jahre später die Börsen-Zeitung auf den Markt bringen wird.

Paul Keppler und Günter Lehmann sind zwei Verleger, die sich gut mit der Abwicklung von Wertpapieren auskennen, gute Beziehungen in die Kreditwirtschaft unterhalten und die den nötigen unternehmerischen Mut besitzen, dort einzuspringen, wo die Banken überfordert zu sein scheinen. Sie schließen sich mit einem Konsortium von Frankfurter Banken und Sparkassen, dem Ausschuss Frankfurter Kreditinstitute, zusammen, um ein wertpapiertechnisches Informationsdefizit zu beseitigen. Sie veröffentlichen ab dem Frühjahr 1947 die „Wertpapier-Mitteilungen“, mit denen gesicherte Informationen unter anderem über gestohlene oder kraftlos erklärte Wertpapiere bereitgestellt werden. Auf diese Weise wird die Wertpapierbereinigung maßgeblich vorangetrieben.

In den folgenden Jahren zeigt sich, dass der Informationsbedarf des Publikums am Finanzplatz weit über Lieferbarkeitsbescheinigungen oder Dividendentrennungen hinausgeht. Interesse herrscht vor allem an einem (börsen)täglichen Kurszettel mit sämtlichen Notierungen von allen acht deutschen Wertpapierbörsen: Frankfurt, Hamburg, Bremen, Düsseldorf, Stuttgart, München, Berlin und Hannover. Als Ergänzung zu diesen Notierungen gibt es Nachfrage nach Marktberichten der regionalen Plätze und nach den Bekanntmachungen der jeweiligen Börsenorgane – sowie nach Informationen aus der Welt der Unternehmen und der Geldpolitik. Genau dieses Programm ist die Grundidee der Börsen-Zeitung bei ihrer Gründung 1952. Die auf dieser Seite abgedruckte Titelseite der ersten Ausgabe vom 1. Februar 1952 vermittelt einen Eindruck, wie das redaktionelle Konzept in die Praxis übersetzt wird. Die Marktberichte der regionalen Plätze stehen im Mittelpunkt der Seite 1, um einen schnellen Überblick über die Entwicklungen des Tages zu vermitteln. Sie werden flankiert durch eine Analyse des aktuellen Berichts der Notenbank, in diesem Fall noch der Bank deutscher Länder (BdL), deren Zuständigkeiten 1957 an die neugegründete Bundesbank übertragen werden. Die rechte Spalte enthält neben den wichtigsten Kurznachrichten aus der Finanz- und Wirtschaftspolitik einen Kommentarplatz. Denn Kommentare spielen von Beginn an eine wichtige Rolle – zumal in den Fünfzigern noch um sehr grundlegende und weitreichende wirtschaftspolitische Fragen gerungen wird. So ist etwa das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ noch kein selbstverständlicher Bezugspunkt deutscher Wirtschaftspolitik.

Die Ausgaben der Börsen-Zeitung in den Fünfzigern sind übersichtlich. Sie umfassen acht bis zwölf Seiten. Eine bemerkenswerte Nebensächlichkeit: Obwohl der Arbeitsmarkt angespannt ist und händeringend – auch in Banken – Fachkräfte gesucht werden, finden sich keine Stellenanzeigen in den frühen Ausgaben der Börsen-Zeitung. Bernd Baehring, langjähriger Chefredakteur in den Siebziger- und Achtzigerjahren, erklärt dazu in einem Rückblick: „Stellenanzeigen waren für den Verlag einst tabu – die Abonnenten hätten eine Verschwörung zum Abwerben von Mitarbeitern vermuten können.“

Die Börsen-Zeitung startet insofern quasi als eine Art Beiblatt zu den Wertpapier-Mitteilungen. Zu einer umfassenden und vollständigen Finanzzeitung entwickelt sie sich im Laufe der Jahre. Anders als bei den Wertpapier-Mitteilungen ist das Zielpublikum nicht das Back Office, sondern die Börsenabteilungen, die Anlageberatung, das Treasury der Banken – sowie die Finanzierungsabteilungen in den Unternehmen.

Die konkreten organisatorischen Vorbereitungen für die redaktionelle Arbeit starten im Herbst 1951. Eine Redaktion wird zusammengestellt, ein Korrespondentennetz geknüpft. Gleichzeitig geht es darum, die Übermittlung der täglichen Kurse von den Inlandshandelsplätzen sicherzustellen.

Von Beginn an hat die Börsen-Zeitung ihre Leser. Die Banken bilden eine gute Basis für eine kritische Masse. Größter Einzelabonnent ist dabei die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, was freilich vor allem daran liegt, dass Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank, wie oben beschrieben, im Frühjahr 1952 noch in viele kleine Einheiten zersplittert sind. Wenig überraschend zählen private Kleinanleger nicht zum Zielpublikum – aber es dauert ja sowieso noch sieben Jahre bis zum Börsengang von Preussag, bevor „Volksaktien“ überhaupt ein großes Thema werden.

Über die Jahrzehnte ist aus dem 1952 festgestellten Informationsdefizit längst ein Informationsüberfluss geworden. Der Geschäftsbericht der Deutschen Bank, der 1969 nur 95 Seiten zählte, ist mittlerweile auf mehr als 500 Seiten angewachsen. Der Bedarf, ein Schlaglicht auf die wirklich relevanten Informationen zu werfen, ist unverändert. Denn 2022 werden erneut wichtige Weichen gestellt – vor dem Hintergrund von Pandemie, erhöhter Inflation und einer Neuausrichtung der Industrie. Die Aufgabe für das Redaktionsteam und für uns als Chefredaktion bleibt in neuem Umfeld eine alte: Verlässlich Orientierung geben auch in turbulenten Zeiten.

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