Digital Finance

Berlin ist das „Silicon Valley“ der deutschen Finanzwelt

In Berlin entsteht Digital Finance von Grund auf. Aus dieser Stärke resultieren die Spitzenplätze beim Wachstum der Fintech-Szene, hier befindet sich die deutsche Hauptstadt auf Augenhöhe mit London.

Berlin ist das „Silicon Valley“ der deutschen Finanzwelt

Vor 150 Jahren verliehen neu entstandene Banken und Versicherungen von Berlin aus der Globalisierung in Industrie und Handel eine bis dahin nie da gewesene Dynamik. Heute prägen aus der Stadt heraus eine Vielzahl technologiebasierter Finanz-Start-ups, die Fintechs, die digitale Finanzwelt des 21. Jahrhunderts. Sie machen sich im Zeitalter der Datenökonomie zum einen die steigende Leistungsfähigkeit der Datenverarbeitung bei einer Abnahme der relativen Kosten und zum anderen das veränderte Nutzerverhalten Mobile First von Konsumenten und Konsumentinnen und Unternehmen als präferierten Zugang zu ihren Finanzdienstleistungen zunutze. Intelligente Infrastrukturen durch Cloud Services, die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) sowie die Distributed-Ledger-Technologie sind weitere Gründe für die dynamische Entwicklung.

Das Einzigartige am Finanz- und Innovationsplatz Berlin: Während anderswo nach einer Symbiose von traditioneller Finanzbranche mit der im Entstehen begriffenen Digitalwelt der Fintechs gesucht wird, kann sich Berlin in dieser Hinsicht völlig neu erfinden. Hier entsteht Digital Fi­nance von Grund auf.

Nicht zuletzt aus dieser Stärke heraus resultieren die Spitzenplätze beim Wachstum der Fintech-Szene seit nunmehr über einem Jahrzehnt. Der Vorsprung Berlins bei dieser Entwicklung gegenüber anderen Fi­nanzplätzen in Deutschland ist enorm. Mit London ist man auf Augenhöhe und immer mehr erfolgreiche Macher und Macherinnen aus Nordamerika und dem Asien-Pazifik-Raum kommen nach Berlin.

Etwas Neues entstanden

Eine Mischung aus Freiräumen, Internationalität sowie ein gesunder Abstand zu traditionellen Finanzplätzen wie Frankfurt am Main haben dazu beigetragen, dass in Berlin etwas Neues entstehen konnte. Und der technologiegetriebene Fi­nanzsektor in der Hauptstadt hat sich im Vergleich zu anderen Finanzplätzen rasant entwickelt. Von den aktuell in Deutschland existierenden mehr als 1000 Fintechs haben über ein Drittel ihren Sitz in Berlin. Hier haben sechs der sieben deutschen Unicorns, das heißt Fintechs mit einer Marktbewertung von über 1 Mrd. Euro, ihr Zuhause. Die unangefochtene Spitzenposition der deutschen Hauptstadt wird auch bei der Höhe der Investments – rund 4 Mrd. Euro im Jahr 2021 – und beim Wachstum der Unternehmenswerte seit dem Start des Gründungsbooms vor einer Dekade sichtbar. Der Marktwert der Fintech-Unicorns beträgt heute zusammengenommen über 22 Mrd. Euro.

Diese Entwicklung ist vorerst die Spitze einer rasanten Dynamik über die vergangene Dekade. Die aktuelle Comdirect-Studie von Ende 2021 bescheinigt dem Fintech-Sektor einen „zweiten Frühling“. Dies zeigt sich sowohl in der Gründungsdynamik als auch an der Tatsache, dass der Sektor nach einer Phase des Abwartens auf dem Höhepunkt der Pandemie im zurückliegenden Jahr der Studie zufolge das nachlassende Wachstum wieder aufgeholt hat.

Die Entwicklung der Finanz- und Tech-Szene in Berlin ist dabei ein gutes Stück weit das Ergebnis einer Eigendynamik und muss von allen im europäischen Wettbewerb gesehen werden. Attraktive Standorte wie London, Amsterdam, Barcelona, Madrid, Paris, Stockholm und Zürich sind die direkten Wettbewerber. Berlin tut gut daran, eine gründliche Bestandsaufnahme der Vor- und Nachteile des Standorts, der Faktoren, bei denen es noch Luft nach oben gibt, sowie jener Aspekte, die einem Fortschreiben der Erfolgsstory im Wege stehen könnten, zu machen.

Die Erfolge, die man in Berlin zu Recht bei vielen Preisverleihungen auf Ranglisten feiert, sind diejenigen einer dezentralen, eher unkoordinierten – typischen Berliner – Herangehensweise. Da die hiesigen Stars längst ihren Kinderschuhen entwachsen sind, haben wir in der Berliner Branche zusammen mit der Politik im Rahmen der Berlin Finance Initiative erkannt, dass es Zeit für eine Weiterentwicklung ist.

Es stellen sich die Fragen: Welcher Wachstumsbedingungen bedarf es, um den Finanz- und Innovationsstandort fit für die kommende Dekade zu machen? Wie steht es um die Diversität in den Unternehmen? Wie können Datensicherheit und Datennutzung im deutschen – im europäischen – Rahmen in Einklang gebracht werden? Braucht es eine politisch flankierte Strategie oder ist die dezentrale Herangehensweise diejenige, die auch in Zukunft den Erfolg für den hiesigen Standort bringt?

Anforderungen an Standort

Bevor sich die Frage nach einem politischen Gesamtkonzept stellt, gilt es die fördernden und hemmenden Faktoren für ein langfristiges Wachstum der Branche wahrzunehmen und deren weitere Ausgestaltung in den Blick zu nehmen. Wohl kaum ein anderer Wirtschaftsbereich ist in einem solchen Maße Adressat von Regulierung und Aufsicht wie die Finanzbranche. Das gilt im Besonderen für die gewachsenen Bereiche und zunehmend auch für die im Entstehen begriffenen, neuen digitalen Player am Platz.

Zur Wahrheit zählt genauso, dass Regulierung darauf achten muss, nicht über das Ziel hinauszuschießen sowie gleiche Risiken mit gleichen Regeln zu belegen. Asymmetrische Informationsverteilung am Finanzmarkt ist Tatsache und so bedarf die Kundenseite selbstverständlich eines besonderen Schutzes. Doch in gleichem Maße muss Regulierung im Blick behalten, wie Digitalisierung aus dem Markt heraus Informationsverzerrungen abbauen hilft.

Hinzu kommt, dass das hiesige Finanzökosystem eine effiziente, innovationsoffene und leistungsstarke Aufsicht mit Ansprechpartnern und Ansprechpartnerinnen in der Stadt benötigt. Die Deutsche Bundesbank hat bereits seit 2019 eine Fintech-Beauftragte in Berlin angesiedelt. Die Neuaufstellung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) böte eine Chance, Berlin als weiteren Standort zu etablieren.

Im Sinne dessen muss auch der Dialog zwischen den genannten Behörden, Nachhaltigkeitsgremien, Verbraucherschutzorganisationen und der Finanzwirtschaft kanalisiert werden. Der Konnex von Digitalpolitik und Innovationsförderung sollte hergestellt werden. Damit kann die Politik den Megatrend Digitalisierung und die technologische Durchdringung sämtlicher Wirtschaftsbereiche flankieren und stärken.

Aspekt der Nachhaltigkeit

Zudem muss sie selbst, etwa in der Verwaltung, konsequent Digitalisierungspfade betreten und zeitgemäße Prozesse entwickeln. Die künftige Prosperität eines Wirtschaftsstandortes hängt von dem Können ab, technologische Trends und Abläufe zu verstehen, wo nötig in gute Bahnen zu lenken und nicht selten Infrastrukturen und Kontexte hierfür zu schaffen oder zu fördern.

Neben der Digitalisierung ist die Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit ein wichtiger Aspekt am Standort. Der Aufbau eines „Datenpools Nachhaltigkeit“ der den ESG-Status-quo (ESG steht für Environment, Social, Governance) in der Realwirtschaft ermittelt und so sichere Richtschnur für das Agieren der Banken und Fintechs in Bezug auf Nachhaltigkeit erleichtert (Stichwort: Sustainable Finance), ist wichtig, genauso wie die Schaffung des Zugangs zu Kapital wie etwa durch die Vernetzung und Integration von Wagniskapitalgebern und Wagniskapitalgeberinnen und weiteren Finanzierungsmöglichkeiten.

Ebenso ist es bedeutsam, Talente zu halten, zu fördern und neue anzuziehen. Dazu gehört es, die Potenziale der vorhandenen Hochschullandschaft zu nutzen, Strukturen auszubauen, die sich dem Wissens- und Technologietransfer widmen, eine Qualifikationsoffensive in Richtung MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zu starten, aber auch vor allem die Diversität von Berlin zu gebrauchen und auszubauen.

Klar ist, die Politik, Investoren und Investorinnen und auch Regulatoren suchen Ansprechpartner wie auch Ansprechpartnerinnen. Gerade weil Berlin der digitale Finanzplatz 4.0. ist und hier die Innovationen entstehen, müssen viele Fragen beantwortet werden, und der Wissenstransfer zwischen allen Stakeholdern ist auszubauen. Denn, die „jungen Wilden“ entwickeln sich zu etablierten Unternehmen bis hin zu Börsenunternehmen. Die Weichenstellung heute entscheidet daher über den zukünftigen Erfolg des Standortes maßgeblich mit. In Berlin ist die Tür zur Digitalisierung der Finanzwelt aufgestoßen. Gemeinsam wird es darum gehen, das, was hinter der Tür liegt, zu formen und zum Erfolg zu führen: Um Berlin erfolgreich als nachhaltigen Finanzplatz 4.0 zu entwickeln, bedarf es jedoch dem Willen und auch der Unterstützung der Politik.

Die neue Berliner Landesregierung unter Führung der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey hat diese strategische Notwendigkeit erkannt und die Förderung der Berlin Finance Initiative im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Jetzt gilt es in Berlin die Kraft des digitalen Finanzplatzes inhaltlich konsistent und mit überzeugendem Auftritt nach innen wie nach außen zu prägen und zu vertreten – in der Europäischen Union (EU), im Bund sowie in Berlin.

Keine Konkurrenzsituation

Letztlich geht es um Win-win-Situationen für alle Beteiligten und einen gemeinsamen Fokus. Dabei steht Berlin nicht in Konkurrenz zum traditionellen Finanzplatz Frankfurt. Im Gegenteil – man ergänzt sich in seinen Schwerpunkten und Kompetenzen: Ist Frankfurt Deutschlands Wall Street, so ist Berlin das Silicon Valley.

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